„LEIDEN IST EINE OPTION“, SCHRIEB HARUKI MURAKAMI. JEDER MARATHONLÄUFER WEISS, WAS DA SO GEMEINT SEIN KÖNNTE: Wann kommt Schild 33, wann 34?
VON JENS UTHOFF
Achtung, es folgt ein recht klassischer Fall von Produktenttäuschung. Statt im „Ausgehen und Rumstehen“ den neuesten Szenetratsch zu erfahren, darüber zu lesen, was Sie möglicherweise am Wochenende verpasst haben, beschäftigen wir uns heute mit der nicht ganz so hippen Szene der Langstreckenläufer.
Der Marathon beginnt eigentlich schon am frühen Samstagmorgen. Am Tag vor dem großen, vor allem langen Lauf holt man seine Startnummer ab. Eingebunden ist die Startnummernausgabe in eine Messe namens „Berlin Vital“. Sie findet in den Hangars des Flughafens Tempelhof statt. Dort sind viele bunte Stände aufgebaut. Jede Menge Zeug wird verkauft, das man angeblich zum Laufen braucht. Supersocken, die neonfarbigen Thrombosestrümpfen gleichen, Tragegurte, in denen man 50 Energy-Getränke transportieren kann (man hat das Gefühl, damit sollen die Läufer fünf Kilo zusätzlich mit herumschleppen), dann Gels, Gummibärchen, Pralinen.
Es gibt ein Brandenburger Tor aus Pappe, vor dem die Teilnehmer in spe sich fotografieren können. Das „Menschen machen Fotos gegenseitig“-Spiel praktizieren sowieso viele der sportlich gekleideten Leute. Man kann auch schon „Finisher“-Shirts erwerben, was ich einigermaßen widersinnig finde. Als würde man eine goldene Schallplatte bekommen, aber das Album noch gar nicht aufgenommen haben.
Am frühen Sonntagmorgen entleeren sich die Läuferinnen und Läufer vor Beginn des Marathons in den Gebüschen des Tiergartens, als Wowereit gerade spricht. „Alle Achtung vor der sportlichen Leistung“ – „tolle Sache für Berlin“, so was. Zwischen den Sträuchern und Bäumen gibt es derweil den ersten Wettstreit um die besten Pinkelplätze.
Es ist tolles Marathonwetter, wie so oft in Berlin. Sonnig, noch leicht kühl. Wir betreten die Startblöcke. Über die Lautsprecher werden gerade alle Teilnehmer in ihren Landessprachen begrüßt. Auch die Bayern.
Beim Start über die 42,195 Kilometer geht mir ein Satz aus Haruki Murakamis Buch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ durch den Kopf. „Leiden ist eine Option“, heißt er. Murakami selbst hat Ultraläufe, also Strecken von mindestens 100 Kilometern, bestritten. Mir kommt es auch einigermaßen selbstverständlich vor, hin und wieder einen Marathon zu laufen. Man muss sich ja jedes Mal aufs Neue selbst besiegen, und man muss jedes Mal aufs Neue die Uhr besiegen. Auch, als ich 39 Kilometer später mit jedem meiner Schritte hadere, stellt sich mir nicht die Frage nach dem Warum.
Die Stadt zieht sehr schnell an einem vorbei: Torstraße, Fernsehturm, Michaelbrücke, Moritzplatz, Kottbusser Tor. Überall Kuhglocken, Klatschpappen, „Go-go-go“! Bei den Yorckbrücken ist die halbe Distanz geschafft, bis hier läuft alles bestens.
Erst ab Kilometer 25 zwickt und zwackt es in den Oberschenkeln. Ab Wilmersdorf bin ich nur noch mit den Kilometerschildern beschäftigt, die an der Strecke aufgestellt sind. Wann kommt Schild 33, wann kommt 34, wann kommt 35. Zwischendurch hört man die Durchsage, dass die Besten im Ziel sind und ein neuer Weltrekord aufgestellt wurde. Wow, denke ich, und dann: meine Oberschenkel.
Selten bin ich so froh, den Potsdamer Platz zu sehen wie in diesem Rennen. Denn der bedeutet: Gleich sind die 40 Kilometer geschafft, und der Rest geht schon irgendwie. Ab der Leipziger Straße werden die Anfeuerungsrufe lauter und lauter. Nach drei Stunden und sechs Minuten überquere ich die Ziellinie hinter dem Brandenburger Tor. Ich wanke zum Weizenbierstand und zur Massage. Yes. Geschafft.
Am Tag danach, wo ich das hier schreibe, scheinen noch ein paar Stecknadeln in meinen Oberschenkeln zu sitzen. Ich weiß auch nicht, was sie da machen, aber die gehen schon wieder weg.
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