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AMERICAN PIEÜber sechs Stunden Poesie

BASEBALL Die Washington Nationals und San Francisco Giants liefern sich ein episches Duell – das längste der Ligageschichte

Selbst die Sieger wirkten wie Geschlagene. Seltsam abwesend, ja fast entrückt blickten sie in den nachtschwarzen Himmel über Washington. Schauten auf die geleerten Ränge, die Stunden vorher noch dicht gefüllt waren. Fixierten die Fernsehkameras. Und sagten dann: „Wir haben uns durchgekämpft.“ Oder: „Wir wollten nur noch, dass es vorbei ist.“ Und: „Der Flug nach Hause wird sehr ruhig werden.“

Wenn Brandon Belt recht behalten hat, dann waren es viereinhalb stille Stunden. So lange ungefähr dauert die Flugreise von der West- zur Ostküste der USA. Und ist damit fast zwei Stunden kürzer als das Baseballspiel, das Belt mit seinem Homerun um Mitternacht entschieden hatte. Aber auch Belt, der vermeintliche Held des 2:1-Siegs der San Francisco Giants gegen die Washington Nationals, sah nicht aus wie ein Gewinner, nicht wie ein Triumphator, sondern vor allem: erledigt und müde.

Noch nie zuvor in der Geschichte des Major League Baseball hatte ein Playoff-Spiel so lange gedauert: 6 Stunden und 23 Minuten. Mit den 18 gespielten Innings stellten die Giants und Nationals einen Rekord ein. Auf neun Innings ist ein Spiel angesetzt, die beiden Mannschaften absolvierten also an einem Abend zwei Spiele am Stück.

Das einzige andere Playoff-Spiel, das ebenfalls einmal 18 Innings gedauert hatte, fand 2005 zwischen Houston Astros und Atlanta Braves statt. Schon damals stand ein Pitcher namens Tim Hudson für Atlanta auf dem Hügel und musste mit ansehen, wie seine Braves verloren. Nun gewann ein 39-jähriger Hudson mit San Francisco. „Es ist eine Schande, dass jemand dieses Spiel verlieren musste“, sagte Hudson, „aber natürlich ist es lustig, dass ich jetzt dabei war bei den beiden längsten Spielen der Playoff-Geschichte.“

Gar nicht lustig war erwartungsgemäß den Unterlegenen zumute. „Das Schlimmste im Baseball sind Langeweile und Frustration“, stöhnte Nationals-Pitcher Craig Stammen. „Wir hatten heute mit beidem zu kämpfen.“ Mit dieser Einschätzung war der Pitcher der Washington Nationals indes weitgehend allein. Denn die 6 Stunden und 23 Minuten waren, auch wenn nicht viele Runs erzielt wurden, nervenzerfetzend spannend. Jedes Team hatte diverse Möglichkeiten, die Partie zu entscheiden, die der Gegner mit teilweise spektakulären Defensivaktionen vereitelte. „One swing of the bat“, so eine zum geflügelten Wort gewordene Redewendung, kann so ein Baseballspiel entscheiden. Aber es wurde oft vorbei geschlagen an diesem Abend.

Dennoch: Wer die Begegnung verfolgte, der spürte wieder einmal, was Baseball so faszinierend macht. Dieses Spiel, das theoretisch ewig dauern kann und dessen Spielfeld als unendlich definiert ist. Dieses Spiel, das über Stunden statisch zu erstarren scheint, urplötzlich Fahrt aufnimmt und dann wieder dahinplätschert wie ein fauler Sommertag. Dieses Spiel, dessen andauernde Duellsituation zwischen Pitcher und Batter eine unterschwellig schwelende Spannung garantiert.

Kaum ein Spiel, da hat der frustrierte Craig Stammen recht, kann so langweilig sein. Keines aber ist auch dermaßen poetisch und birgt ein solches Potential, zum Epos zu werden. Folgerichtig ist keine andere Sportart so oft in der Literatur verewigt worden wie Baseball – von Mark Twain und Robert Frost über John Updike und Philip Roth bis zu Don DeLillo und Richard Ford. Ernest Hemmingway lässt in „Der alte Mann und das Meer“ seinen Helden beim Kampf gegen den Marlin immer wieder über Baseball und den großen Joe DiMaggio sinnieren.

Das Spiel von Washington dauerte nicht drei Tage wie der Kampf von Santiago gegen den Marlin. Und keiner der Spieler, die dabei waren bei den 6 Stunden und 23 Minuten, wird die mythische Größe eines DiMaggio erreichen. Aber unabhängig davon, wer diese Best-of-5-Serie, die Washington in der Nacht zu Dienstag auf 1:2 verkürzen konnte, schlussendlich gewinnen wird, ob Nationals oder Giants den Titel holen werden, fest steht bereits: Sie haben sich mit diesem längsten Spiel verewigt in der langen Geschichte des Baseball. THOMAS WINKLER

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