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Immer diese Widersprüche

URAUFFÜHRUNG In Bremerhaven eröffnete am Samstag das Festival „Odyssee: Heimat“ mit einem neuen Stück von Gerhard Meister: „In meinem Hals steckt eine Weltkugel“

Gerhard Meister lässt seine Figuren in ihren Widersprüchen zappeln

von Andreas SchnellSie ist ja wirklich manchmal zum Verrücktwerden, die Welt, in der wir leben. Da sind den einen die Austern nicht zart genug, während sich andere im besten Fall mit einer Handvoll Reis im Mund bescheiden müssen. Da sind die einen Helden, weil sie, um ihr bescheidenes Leben zu verbessern, in fremde Länder aufbrechen, während andere als Wirtschaftsflüchtlinge geschmäht und als illegale Ausländer verhaftet und abgeschoben werden.

Da gibt es, um ein Beispiel aus Gerhard Meisters in Bremerhaven uraufgeführtem neuen Stück zu nehmen, Magenbandoperationen „auch für Hunde und Katzen“, damit die Tiere nicht so viel fressen. Während anderswo Kinder mit Hungerbäuchen auf den Tod warten. Und in jedem Mobiltelefon, auch das erzählt „In meinem Hals steckt eine Weltkugel“, steckt ein halbes Gramm Coltan, das vor allem im Kongo abgebaut wird, unter „fürchterlichen Arbeitsbedingungen“. Klebt Blut an unseren Handys? Und wenn ja, was folgt daraus? Das Telefon wegschmeißen? Aber wem nützte das?

Gerhard Meister hat ein Stück geschrieben, das ein Manifest der widersprüchlichen Gemütslagen ist, die sich aus Mitgefühl und Eigennutz ergeben. Es ist schließlich bekannt, dass in weiten Teilen der Welt bitterstes Elend herrscht. Und zugleich die kapitalistische Wertschöpfung zu geradezu fantastisch anmutendem Reichtum führt. Meister selbst, so teilt er im Programmheft mit, hat sich gefragt, „ob es nicht Unsinn ist, ein Stück über die pervers eingerichtete Welt zu schreiben, statt etwas gegen diese Welt zu tun“. Und lässt die Figuren auf der Bühne, die nicht einmal Namen tragen, um es nochmal mit des Meisters Worten zu sagen, „in ihren Widersprüchen zappeln“. Was ihn zu einer reizvollen Form geführt hat, die zwischen Chor und Monolog wechselt und uns ein kollektives Ich vorführt, das an jenen Widersprüchen regelrecht verrückt wird. Es beginnt mit einem, der über den Coltan-Anteil seines Handys raisonniert, geht weiter mit einer, die im Supermarkt von der Fülle des Angebots überfordert ist, mit einem, der vor allem ein spirituelles Problem damit hat, sich nicht permanent das Leid anderer Menschen zum eigenen machen zu können, und setzt sich fort mit einer, die trotzig darauf beharrt, sich über die Hundehaufen vor ihrer Tür zu ärgern, trotz Millionen von Hungertoten anderswo. Es geht ihnen buchstäblich an die Nieren, jenen durchnummerierten Menschen, die da in ihren individuellen Befindlichkeiten kaum noch unterscheidbar sind. Und so bitterböse Sätze sagen wie: „Was kann ich denn dafür, dass wir hier keine Hungertoten haben?“ Wobei natürlich der wahre Zynismus darin besteht, dass diese Hungertoten mit so erschütternder Regelmäßigkeit immer wieder neu produziert werden, und die Versuche, dem Elend zu entgehen, an den Mauern der „Festung Europa“ so systematisch zerschellen. Meisters Figuren treibt dabei vor allem ein Problem um: Wie sie selbst damit zurechtkommen, Teil einer Weltordnung zu sein, die dauerhaft Not und Elend herstellt. Wie sie ihr Leben im relativen Wohlstand leben können im Wissen, dass dieser zumindest irgendwie mit der Not der anderen verknüpft ist. Bis sie sich – auch das ein erfolgloser Versuch – in Yoga-Uniform zum esoterischen Ritual treffen. Dem verdammten Welthunger muss doch irgendwie beizukommen sein…

Erik Altorfer hat Meisters Stück eher zurückhaltend in einer Box inszeniert, die sich im Verlauf um sich selbst dreht, wie das Personal darin, die mal Salon ist, mal als Rückwand Projektionsfläche, und eine Seite der Box offeriert schließlich eine Wand voller Babypuppen, die darauf verweisen, dass Spendenbereitschaft sich nicht zuletzt an traurigen Kinderaugen entzündet, und damit die Verlierer des global ausgetragenen ökonomischen Wettbewerbs noch einmal ganz brutal sortiert werden. Was bleibt, ist eben jene Weltkugel, die im Hals stecken bleibt. Kein Trost, keine Handlungsanweisung. Aber das Wissen, dass Nabelschau auch keine Lösung ist.

■ „In meinem Hals steckt eine Weltkugel“ ist heute Abend um 19.30 Uhr im Stadttheater Bremerhaven zu sehen. „Odyssee: Heimat“ läuft noch bis Samstag, das Programm im Internet auf www.stadttheaterbremerhaven.de

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