: Schlendernde Kamikazefliege
Es ist nichts Neues: Der Musiker darbt. Jedenfalls, wenn er glaubt, seinen Unterhalt allein mit dem Verkauf von Tonträgern bestreiten zu können. Nein, er muss auf die Bühne, dort oben liegen nicht nur die Bretter, die die Welt bedeuten, sondern auch halbwegs lukrative Einkunftsmöglichkeiten. Nur, was man dort oben dann veranstaltet, kann so unterschiedlich sein wie der Ansatz von Judith Holofernes und der des Afroberlin High Orchestras.
Holofernes hat mit „Pechmarie“ bereits die dritte Single ausgekoppelt aus ihrem ersten Solo-Album „Ein leichtes Schwert“ nach dem Ende ihrer Erfolgsband Wir sind Helden. Eine Single auszukoppeln allein ist natürlich verdammt letztes Jahrtausend, aber deshalb wird daraus bei Holofernes eine Live-EP. „Pechmarie“ und drei weitere Songs wurden aufgenommen auf ihrer Tour Anfang des Jahres, dazu noch eine neue, sattere, rund rollende Version des Titelsongs, eingespielt mit der schweizerischen Roots-Rock-Band Mama Rosin, die dem Song endgültig den letzten Rest Kieksigkeit austreibt, die Holofernes herübergerettet hatte. Den Fans wird aber vor allem die schlendernde Version von „Kamikazefliege“ gefallen, dem Titelsong ihres ersten Solo-Albums von 1999, ein Jahr vor der Gründung von Wir sind Helden. „Versetzt euch in eine 18-jährige Judith, sehr jung, sehr verliebt“, kündigt Holofernes den Song an, und uns bleibt festzustellen: Auch die sehr junge Judith Holofernes konnte schon ganz gut mit der deutschen Sprache umgehen.
Mit Sprache will sich das Afroberlin High Orchestra gar nicht erst abquälen. Die neun Musiker aus Spanien, Kuba, Benim, Guadeloupe, den USA und Deutschland erforschen auf „Descargo Mágica“ stattdessen in aller denkbaren Ausführlichkeit die nicht eben kleine Grauzone zwischen Jazz und lateinamerikanischen Rhythmen.
„Descargo Mágica“ ist live eingespielt anlässlich der Party zum 50. Geburtstag von Bandgründer Martin High De Prime. Die Publikum ist auf dem Album zwar nur selten zu hören, aber die entspannt mäandernden Schlieren, die Saxofon, Posaune und Trompete ziehen, die rhythmischen Reisen, auf die sich die Perkussionisten begeben, und das Piano, das immer mal wieder Details in den schier endlosen Fluss tupft, kann man sich eigentlich nur auf einer Bühne vorstellen.
THOMAS WINKLER
■ Judith Holofernes: „Pechmarie“ (Därangdängdäng/Four Music/ Sony), 19. 10., 20 Uhr, Waschhaus Potsdam ■ Afroberlin High Orchestra: „Descargo Mágica“ (Ahoi-tunes), Record Release, 22. 10., 20 Uhr, Kulturhaus Insel, Treptow
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