: Adornos späte Kinder
Die Stuttgarter Alexanderstraße ist ein Symbol der neuen schwäbischen Bürgerlichkeit. Mit Platz für Utopie, die sich in der Projektwerkstatt an den Bopserstaffeln einquartiert hat: eine ambitionierte Lebens- und Politikgemeinschaft, offen für alle. Und während im Keller Marx gelesen wird, gönnt man sich ein paar Stockwerke weiter oben im Haus auch schon mal Champagner
von Susanne Stiefel
Ronja hat seinen Namen selbst gewählt. „Ich will mit den rigiden Geschlechterrollen brechen“, nuschelt der Schlacks gelassen einen großen Wunsch. Seitdem heißt der junge Mann wie die Räubertochter in Astrid Lindgrens gleichnamigen Märchen. Auf welchen Namen er getauft wurde, will der 22-Jährige nicht verraten. Ronja hat den leicht gebückten Gang großer Menschen und trägt auch hier in den Kellerräumen den Kapuzenpulli hochgeschlagen, während er mit einer Art nachlässigem Stolz den Fremdenführer in eine andere Welt gibt. Er zeigt die Bibliothek mit den blauen Bänden, das Schlafzimmer, die Küche, das Büro, den Ampelraum.
Alles wird gemeinsam genutzt, und wer mal alleine sein will, stellt die Ampel im gleichnamigen Zimmer auf Rot, was so viel heißt wie: Ich will hier zwei Stunden allein oder zu zweien meine Ruhe haben. Oder auch: Kümmert sich mal bitte jemand um mich? Die Projektwerkstatt in der Stuttgarter Alexanderstraße erstreckt sich über drei Etagen, aber mehr als drei Dimensionen.
Viele gehen seit Ende vergangenen Jahres dran vorbei, an diesem bunten Fleck mitten in Stuttgarts gutbürgerlicher Mitte, wo hell erleuchtete Fenster einen neugierigen Blick in eine andere Welt gewähren. Was passiert in diesem Eckhaus an den Stuttgarter Stäffelchen, in dem Menschen nicht auf Äußerlichkeiten achten, keinen Privatbesitz haben und auch sonst mit Gewohnheiten brechen?
Eigentum abschaffen, gesund essen, Stuttgart 21 verhindern
Hier haben sich zehn junge Männer und Frauen zusammengetan, die eine Utopie leben wollen. Hier in der Alexanderstraße 116 wird in den unteren Etagen experimentiert, an die Grenzen gegangen, werden Grenzen überschritten. Sie probieren und provozieren. Zusammen wohnen und Politik machen wollen sie, sich selbst verändern und die Gesellschaft. Eigentum abschaffen, gesund essen, die Vereinzelung in der Gesellschaft überwinden, den Konsumwahn stoppen, Stuttgart 21 verhindern.
Und wem das alles irgendwie bekannt vorkommt, der hat recht. „Wir sind ein linkes Projekt“, sagt Peter Schadt, der ein bisschen der Anführer ist, auch wenn es hier völlig hierarchiefrei zugehen soll. Die Ansprüche sind hoch. Doch wer mitmachen will, darf einfach eintreten. Die Tür steht Mutigen offen.
Peter sitzt auf dem Sofa in der Bücherei. Schwarze Turnschuhe, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt. Auch der Strohhut ist so dunkel wie die Haare des 22-Jährigen, das Lächeln lässig und offen. Es sind hauptsächlich die Bücher seines marxistischen Großvaters und von Freunden, die hier ordentlich in Regalen stehen und die sich jeder ausleihen darf. Es ist das aufgeräumteste Zimmer im ganzen Haus, eine Insel der Ruhe in einem Meer kreativer Unordnung. „Das Kapital“ von Marx steht neben Brechts gesammelten Werken, anarchistische Klassiker wie Gustav Landauer drängeln sich auf den Holzregalen, daneben Erich Fromms „Haben und Sein“. Alles schon mal da gewesen, die Bücher, das Wohnexperiment. Die 68er-Revolte samt Kommune 1 lässt grüßen. Und dann ist es doch wieder ganz anders. Essen ist ein zentrales Thema.
Die Grünen gelten als satt und zu angepasst
Zwischen Marx und Fromm hängt ein Zettel mit durchgestrichenen Kochtöpfen. „Viele haben in unserer Gesellschaft Probleme mit dem Essen“, erklärt Peter das Essverbot in der Bibliothek, „Bulimie, Magersucht, Lebensmittel-Allergien. Wir wollen, dass man hier entspannen kann.“
In den Leseraum haben sie auch die Nachbarn eingeladen, als sie sich an einem Tag der offenen Tür vorstellten. Auch die Kienzles unterm Dach sind die Treppen hinuntergestiegen und saßen auf dem Sofa. „Die sind ganz okay“, sagt Peter gönnerhaft, „obwohl sie Grüne sind.“ Die Grünen sind ihnen zu arriviert. Zu satt. Zu angepasst. Die Kellerkinder sind hungrig und ungeduldig und radikal. Sie haben sich gewundert, dass sich Michael und Veronika Kienzle in die Höhle des Löwen gewagt haben. Sie grüne Bezirksvorsteherin, er Chef der Stiftung Geißstraße, Literaturwissenschaftler und grüner Stuttgarter Stadtrat. Beide diskussionswillig und durchaus neugierig, wer sich denn da in diesem Keller eingenistet hat, in dem früher ein Callcenter 40 Leute beschäftigte.
Auf der Suche nach dem richtigen Leben. Im Falschen
Peter greift nach der „Minima Moralia“. Da steht Adornos berühmtester Satz, der ihm nicht mehr aus dem Kopf geht: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, zitiert der Philosophiestudent, und das will er so nicht stehen lassen. Wenn Adorno recht hätte, dann könnten sie hier in der Alexanderstraße gleich ihre Zelte abreißen. Sie versuchen ja gerade, das richtige Leben im falschen zu leben. Sie gehen containern und essen, was andere wegwerfen. Dabei sind sie durchaus wählerisch: Der Bioladen muss es schon sein. Sie kochen für Demos und Blockadecamps. Volksküche wollen sie es nicht nennen, sagt Ronja, das klingt ihnen zu uncool. Sie haben sich auf Küfa geeinigt, Küche für alle.
Und nicht nur Peter steht wegen seines Engagements gegen S 21 vor Gericht. „Ich verstehe diesen Satz nicht“, sagt er noch einmal. Und das liegt nicht an seinen intellektuellen Fähigkeiten. Er und seine Freunde halten diese Gesellschaft, in der sie leben, für falsch: zu kalt. Zu individualistisch. Zu sehr an Äußerlichkeiten orientiert. Sie engagieren sich deshalb bei Robin Wood, der Antifa, bei den Tier- und den Parkschützern. Sie wollen das richtige Leben finden.
Utopien haben einen Fahrplan. Das Prinzip Hoffnung in der Projektwerkstatt wäre nicht möglich ohne den Protest gegen Stuttgart 21. Die meisten im Haus sind engagierte Parkschützer. Die einen organisieren Camps, in denen man gewaltfreie Blockaden üben kann. Die anderen standen schon vor Gericht, weil sie den Nordflügel des Bahnhofs besetzt hatten. Ohne die aktuelle Aufbruchstimmung in Stuttgart gäbe es dieses engagierte Jugendprojekt nicht. „Die Leute waren offen für Ideen“, sagt Peter. Er hatte die Idee, als er im Februar 2010 in der Schweiz war und dort bei einem ähnlichen Projekt einfach seinen Schlafsack ausbreiten und wohnen konnte.
Eine Anlaufstelle für Gleichgesinnte
Zurück in Stuttgart, suchte er Leute, die mitmachen wollten, und eine zentrale Wohnung in Stuttgart, eine Anlaufstelle für Gleichgesinnte. Damals studierte Peter Schadt im vierten Semester Philosophie und Geschichte in Tübingen. Inzwischen hat er eine Pause eingelegt, dafür einen Verlag gegründet (Gegen-Kultur) und die Projektwerkstatt aus der Wiege gehoben. „Dem Wahnsinn einer individualisierten Gesellschaft“, so Peter Schadt, wollen sie trotzig die Kooperation einer Gemeinschaft entgegenhalten.
Die Stuttgarter Alexanderstraße ist nicht erst seit dem Roman von Anna Katharina Hahn ein Symbol für die neue schwäbische Bürgerlichkeit. Die Schriftstellerin von „Kürzere Tage“ wohnt ebenso in der Straße wie der Orthopäde, der VfB-Spieler zurechtbiegt, oder die Therapeutin, deren Klienten manchmal auf der Straße tanzen.
Michael und Veronika Kienzle leben gerne in dieser Umgebung. Vor elf Jahren haben sie hier eine Eigentumswohnung gekauft, ein paar Etagen über der Projektwerkstatt. „Wir sind auch ein Projekt“, sagt Michael Kienzle und lächelt ein bisschen trotzig. Drei Generationen wohnen in den Eigentumswohnungen, die Jüngste ist 15, der Älteste 88 Jahre alt. Die Kellerkinder haben das alte Gefüge der Eigentümer ganz schön aufgemischt.
Die funktionsuntüchtigen Fahrräder scheinen sich nächtens zu vermehren, frotzelt der passionierte Radfahrer Michael Kienzle, der diesen Schrottplatz am Haus und die verstreuten Socken und BHs der neuen Mitbewohner „schlicht unästhetisch“ findet.
Im Hausflur stehen schon mal die Gasflaschen rum, mit denen die Köche von der Küfa ihr veganes Essen brutzeln, dessen Duft hoch bis zu den Kienzles zieht. Doch für die größte Unruhe in der Eigentümergemeinschaft sorgt die Tatsache, dass Reisende bei der Projektwerkstatt jederzeit Unterschlupf finden und man nie so recht weiß, wer denn nun eigentlich mit im Haus wohnt.
Für die Grünen im Haus sind sie der Stresstest
Das wissen die jungen Leute von der Projektwerkstatt in der Alexanderstraße 116 oft selbst nicht. „Für mich ist das der Stresstest“, sagt Michael Kienzle süffisant. „Jetzt haben wir die Parkschützer im Keller“, sagt Veronika Kienzle, „das ist Treibsatz.“ Aber in einem sind sich die beiden Grünen einig: Die Stadt braucht solche Orte. Und wenn es sein muss, dann eben auch im eigenen Keller.
Und so passieren hübsche Dinge in den Parallelwelten unter einem Dach, die der Dienstag vergangener Woche wunderbar symbolisiert. Unten in der Projektwerkstatt tagen im Marx-Lesekreis sechs ernsthafte junge Menschen, die sich über den Fetischcharakter der Ware Gedanken machen, um die Welt besser zu verstehen. Drei Stockwerke über den Kellerkindern tagt die Gemeinschaft der Eigentümer, von denen der eine oder andere das Marx-Studium schon hinter sich hat, um die Hausordnung zu diskutieren. „Und einer“, sagt Michael Kienzle und lächelt ein sibyllinisches Lächeln zwischen Selbstironie und Provokation, „bringt immer Champagner mit.“
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