: Problem der Abtrünnigkeit
SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Warum gibt es kaum laute Kritik am Islamismus in der arabischen Welt?
■ Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaften am Evergreen State College im US-Staat Washington. In Berlin setzte sie ihre Forschung im Forum „Transregionale Studien“ fort. Ein Teil ihrer Familie lebt in Kairo.
Warum stehen Muslime nicht auf und verurteilen lautstark den islamistischen Extremismus? Das Schweigen macht einen taub! Doch die Frage ist: Warum haben nicht zuletzt auch muslimische Intellektuelle solche Schwierigkeiten, die muslimische Welt zu kritisieren?
Als erstes Problem wäre da der Umstand, dass die muslimische Welt mit ihren 1,2 Milliarden Menschen in jeder Hinsicht verletzlich ist und schwach. Diejenigen von uns, die aus dem arabischen Nahen Osten kommen, die im Schatten der Niederlage im Krieg gegen Israel 1967 aufwuchsen und die verstärkte Islamisierung vieler Teile der arabischen Welt in den 70ern erlebten, diagnostizieren beständig diese Niederlagen und Rückschläge und finden, dass die arabische Welt leide, weil ihr die politische Unabhängigkeit fehle. Natürlich bedeuten die Schwächen der arabischen Welt nicht, dass ihre Gegner gut und moralisch einwandfrei wären. Das nur nebenbei.
Öl, Israel und Sicherheit
Ein weiterer Grund für die häufig ausbleibende öffentliche Kritik ist, dass viele der Probleme tatsächlich mit der brutalen und marginalisierenden Politik des Westens zusammenhängen. Das amerikanisch/westliche Paradigma für den Nahen Osten seit 1967 ist: Öl, Israel und Sicherheit. Just hierin wurzeln die tiefgreifendsten Probleme des Nahen Ostens.
Öl, weil die Abhängigkeit des Westens die konservativen bis reaktionären Regime in der Region päppelt.
Irael, weil das westliche unendliche Verständnis gemeinsam mit den beinah ebenso grenzenlosen Waffenlieferungen die arabische Welt massiv destabilisieren. Und das Stabilitätsdiktum schließlich beschert uns all die Diktaturen, die von der Arabellion herausgefordert wurden. Der Wunsch nach Stabilität bedeutet vor allem stabile Unterdrückung der breiten Bevölkerung und relative Sicherheit für Israel. Ohne diesen Kontext zu berücksichtigen, ist es unmöglich zu verstehen, was die arabische Welt so schmerzt.
Im Grunde gibt es nur einem Bereich, über den man im Nahen und Mittleren Osten die Kontrolle hat: über die Bedeutung und Interpretation des Islam. Auch das erklärt seine Wichtigkeit und den Umstand, dass mit dem Aufbegehren gegen die Diktaturen der Islamismus gestärkt wurde. Auch in einem anderen Teil der muslimischen Welt, nämlich in Nordnigeria, haben zwölf Staaten die Scharia wieder eingeführt. Dieser Schritt ist eine direkte Reaktion auf die grassierende Armut, Korruption und den Freiheitswunsch der Bevölkerung.
Das Problem aber beginnt dann, wenn der Islam von weiteren Teilen der Gesellschaft buchstäblich genommen wird. Dann bekommen wir es mit dem diffizilen Problem der Abtrünnigkeit zu tun. Als ich Straßeninterviews mit Ägyptern führte, die gegen den ehemaligen Präsident Mursi protestierten, wurde mir klar, wie groß die Angst davor ist, als Verräter zu gelten.
Verwirrter, ängstlicher Westen
Ich werde regelmäßig von radikalen Zionisten angegriffen (wegen meiner Parteinahme für die Rechte der Palästinenser) und von Islamisten, die enttäuscht feststellen, dass ich ihre Ansichten nicht teile. Auch einige aus der Linken begeistert meine moderierende Position nicht.
Westliche Experten der islamischen Kulturen und Gesellschaften – eine Welt die IS und al-Qaida einschließt – stehen unter Druck, die Phänomene einem verwirrten, manchmal auch verängstigten Publikum zu erklären. Zu meinen Aufgaben gehört es, die Faszination für die Scharia im Norden Nigerias zu erklären. Dafür muss man Feldarbeit leisten und sich darum bemühen, die Weltsichten der Nordnigerianer in ihrem eigenen Begriffen wiederzugeben. Das erfordert Geduld und dürfte die Freunde der schnellen Antworten verärgern. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann leben die Nigerianer in einer von der westlichen vollkommen verschiedenen Welt. Im Westen sprechen Forscher gerne davon, dass wir in einer „postmodernen“ Ära leben, der alle Metaerzählungen suspekt sind und in der Menschen eher partikulare als universale Werte vertreten.
Umstrittene Innenperspektive
Doch während der modernen Phase des Westens, die im 19. Jahrhundert einsetzte, begannen die Gesellschaften in Afrika aufgrund des Kolonialismus auseinanderzubrechen. Vom postmodernen Nigeria in westlicher Definition zu sprechen, ist daher nicht richtig – zumindest wenn man die Gesellschaft von innen heraus verstehen möchte. Aus dieser Perspektive ist Destabilisierung keine positive analytische Kategorie, sondern eine negative materielle Wirklichkeit, die direkt aus dem britischen Kolonialismus und der amerikanischen kapitalistischen Hegemonie resultiert.
Ungefähr seit den Interventionen des legendären Islamwissenschaftlers William Cantwell Smith in den 60er Jahren haben wir akzeptiert, dass die religiöse Tradition am besten anhand von Texten zu studieren ist, die von muslimischen Autoritäten für wichtig gehalten werden oder anhand von Ritualen, die systematisch in der muslimischen Welt praktiziert werden. Für Smith sollten Religion und religiöse Praxen, vor allem nichtwestliche, am besten aus einer sympathisierenden Perspektive angegangen werden. Er reagierte damit klar auf eurozentrische Lektüren vor allem des Islam. Gleichzeitig kann diese innerislamische Perspektive auch Konservatismen erzeugen.
Doch glücklicherweise liegt es gerade im Trend, dass Forscher von „innen“ kritische Fragen an die traditionelle Wahrnehmung von Frauen, Minderheiten und „Freidenkern“ im Islam stellen. Bis vor Kurzem waren das heikle Themen. Die Ausnahme machen in der Regel die Wissenschaftler, die den zeitgenössischen, also auch den gelebten Islam erforschten. Ihr Forschungsgegenstand existiert in Echtzeit und die Widersprüche, denen sie begegnen, sind offensichtlicher.
Ich bin voller Hoffnung, dass wir schon in zehn Jahren eine ansehnliche Gruppe von respektierten Islamwissenschaftler haben, die die politische und und soziale Freiheit besitzen, die Probleme der Region systematisch anzusprechen – ohne als Verräter zu gelten.
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