: So long, Marianne
WASSERMUSIK Zum zweiten Mal fand in Potsdam das Oh!-Ton-Festival statt, das Radiofeatures und andere Audioformate in speziell ausgestatteten Booten auf der Havel präsentiert
VON KATHARINA GRANZIN
Sacht schaukelt das Floß auf der abendlichen Havel. Noch schickt die Sonne wärmende Strahlen über das tiefblaue Wasser und taucht das bizarr märchenhafte Schloss Babelsberg in goldene Farbnuancen. Eine Frau erzählt in klingendem Norwegisch von einer verflossenen Liebe, und Leonard Cohen singt mir mit dunkelsamtener Stimme ins Ohr. Nirgendwo kann es gerade schöner sein als genau hier.
Fast eine Institution
Wir sitzen in einem „Hörboot“, einer Einrichtung, die, da sie nun bereits zum zweiten Mal fahren darf, fast schon auf dem Weg ist – man möchte es wünschen –, in Potsdam zur Institution zu werden. Die kleinen, mit Audioanlagen ausgestatteten Floße, die nur eine Handvoll Menschen auf einmal fassen und von freundlichen Studentinnen auf gut Glück navigiert werden, sind Teil des „Oh!-Ton-Festivals“, das 2009 zum ersten Mal stattfand und sich auf die Fahnen geschrieben hat, dem Feature, einem oft aufwendig produzierten Radioformat, das allzu häufig zu schlechten Zeiten abgesendet wird und dann in den Rundfunkarchiven verstaubt, eine Plattform zu bieten. Hörspiele erführen ohnehin schon genug Aufmerksamkeit, erklärt Tomke Braun, Studentin der Kulturarbeit an der Fachhochschule Potsdam, die zusammen mit weiteren KommilitonInnen das Festival betreut. Die anderen Audioformate würden daneben vernachlässigt. Das wolle man mit dem Festival ändern.
Und tatsächlich schenkt einem dieser Ort, die beschaulich am Wasser gelegene Fabrik Potsdam, eine Art von akustischer Einkehr, für die man sonst kaum Gelegenheit hat. In Berlin würde das so nicht funktionieren, denkt man unwillkürlich. Würden diese Hörboote von, sagen wir, der Insel der Jugend abfahren, hätte man nur schwer einen Platz bekommen, so überwältigend wäre der Andrang gewesen. Einmal auf dem Wasser dann, hätte das Röhren startender Wasserflugzeuge, das Tucktuck der Ausflugsdampfer und das Grölen auf den Grillbooten regelmäßig übertönt, was Leonard Cohens ehemalige norwegische Geliebte in unseren Kopfhörern zu erzählen hat. Marianne Ihlen, die der Sänger auf der griechischen Insel Hydra kennenlernte und die, bis die Rundfunkjournalistin Kari Hesthamar sie vor ein paar Jahren kontaktierte, es zeit ihres Lebens immer abgelehnt hat, Interviews zu geben. Doch vor Hesthamars Mikrofon erzählt sie sehr offen von jener Phase in ihrem Leben, in der ihr Mann, der norwegische Schriftsteller Axel Jensen, sie verließ und der kanadische Singer-Songwriter in ihr Leben trat. Mit „So long, Marianne“ – denn für Marianne Ihlen schrieb Cohen dieses Lied – wird das Feature natürlich eingeleitet. Ein paar Mitfahrende, in ihrer Hörwelt ganz bei sich, trällern entrückt mit.
Sehende Ohren
Natürlich sind nicht alle Hörstücke auf dem Festival derart romantisch aufgeladen. Im Fabrikgarten, in dem man sich unter Bäumen sitzend behaglich betrinken kann, derweil aus Lautsprechern Featureklänge dringen, erzählt ein blindes Mädchen von ihrer Wahrnehmung als Nichtsehende, die eigentlich gar nicht das Gefühl habe, nicht zu sehen, da die Ohren die Funktion der Augen übernähmen. Was sie damit meint, ist für Menschen mit funktionierenden Sehorganen normalerweise kaum zu verstehen. Doch später am Abend findet im Saal eine Lautperformance der Choreografin Lucia Glass statt, die uns genau diesen Effekt am eigenen Hirn nachvollziehen lässt. Stühle stehen versetzt im Raum, so weit auseinander, dass man bequem dazwischen hindurchgehen kann. Über Kopfhörer wird im Halbdunkel des kargen Saales eine Choreografie akustisch eingespielt. Obwohl man sie lediglich hört, glaubt man sie tatsächlich fast zu sehen, so intensiv ist die räumliche Illusion. Es kostet enorme Willenskraft, sich nicht permanent umzudrehen, da man doch sicher ist, dass direkt hinter einem jemand schlurft, schlabbert, geht, spricht – und einem einmal so plötzlich ins Ohr flüstert, dass fast die gesamte Besatzung vor lauter Erschrecken verlegen kichern muss.
Das Ganze ist auf anregende Weise anstrengend und etwas unheimlich. Warum hat Glass ihre Inszenierung nur so eingerichtet, dass alles hinter dem Publikum stattfindet, frage ich die Choreografin, nachdem alles überstanden ist. So hat man ja nie Gelegenheit, sich zu entspannen, weil man immer auf der Hut vor dem ist, was hinter dem eigenen Rücken geschieht. Die Künstlerin lacht. Nein, erklärt sie, es sei allein das Hirn, das seinem Besitzer vorgaukle, alle Aktion geschehe hinten. Wenn ich nicht sehen kann, was ich gerade höre, interpretiert es, muss es wohl hinter mir sein. Wenn man aber während der Performance die Augen schließe, dann gelinge es manchmal, den Klang optisch nach vorne zu holen. Wir verlassen die brandenburgische Landeshauptstadt um kostbare synästhetische Erfahrungen reicher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen