: Probewohnen im Edelknast
Bevor Anfang Juli die ersten von insgesamt 318 Gefangenen einziehen, präsentiert sich das neue Hochsicherheitsgefängnis bei Göttingen neugierigen Besuchern. 150 Menschen kamen zum Probewohnen und haben eine Nacht im Knast verbracht
Im Januar 1998 hangelten sich drei Insassen ganz klassisch nachts mit Betttüchern über eine Mauer. Keiner der Wärter hatte bemerkt, wie sie mehrere Sicherheitsanlagen überwanden. Im November 1999 gelang es einem Insassen sogar, während des Hofganges zu fliehen: Er kletterte auf ein Sicherheitsnetz und balancierte auf den Seilen bis zur 4,50 Meter hohen Außenmauer des Gefängnisses, die er ebenfalls überwand. Seine „akrobatische Höchstleistung“, so das niedersächsische Justizministerium, nützte ihm aber nichts, denn er wurde später in Portugal gefasst. Drei andere Insassen scheiterten im Dezember 2006 mit einem behäbigeren Ausbruchsversuch: Sie schabten mit Gabel und Löffel ein Loch in die Decke ihrer Gemeinschaftszelle, scheiterten aber an einem Wärter, der die Kratzgeräusche hörte. KC/DPA
VON REIMAR PAUL
Im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) Rosdorf drängen sich die Neuzugänge. Es ist eng und stickig. Fast anderthalb Stunden vergehen, bis Ausweise kontrolliert, alle Leute und ihr Gepäck durchleuchtet und gefilzt sind. „Das ist doch hautnah“, muntert Anstaltssprecher Siegfried Löprick die Wartenden auf. „Wir wollen hier schließlich Realität demonstrieren.“
Realität demonstrieren, den Haftalltag hautnah erleben – unter diesem Motto steht die Einladung zu einem 20-stündigen „Probewohnen“ in dem neuen Knast. Rund 150 Interessierte haben sich angemeldet. Nachbarn aus Rosdorf und Göttingen ebenso wie Kommunalpolitiker und einige Journalisten. Bevor Anfang Juli die ersten von insgesamt 318 Gefangenen einziehen, präsentiert sich „das modernste und sicherste Gefängnis Deutschlands“ mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen. Die offizielle Eröffnung war am Montag. In den nächsten Tagen können die künftigen Mitarbeiter und ihre Familien den Knast kennen lernen.
Die rund 62 Millionen Euro teure, viergeschossige Anstalt, die jeweils zur Hälfte von Untersuchungs- und Strafgefangenen belegt werden soll, ersetzt das alte Untersuchungsgefängnis in der Göttinger Innenstadt. Das ist schon seit 1879 in Betrieb und geriet durch seine engen Mehrbettzellen und miserablen sanitären Anlagen ebenso oft in die Schlagzeilen wie durch spektakuläre Ausbrüche (siehe Kasten). „Im neuen Knast sind die äußeren Bedingungen deutlich besser“, sagt der evangelische Anstaltspfarrer Thomas Harms.
Jeder Gefangene in der JVA Rosdorf hat immerhin acht Quadratmeter Platz für sich. In den Einzelzellen gibt es helle Holzmöbel, blaue Vorhänge aus schwer entflammbarem Kunststoff und ein winziges abgetrenntes Bad. Zwei Sportplätze wurden angelegt, eine Turnhalle gebaut, auf jedem Flur ein Fitness-Raum eingerichtet. In sechs großen Werkhallen sollen möglichst alle Häftlinge für Eigen- oder Fremdbetrieb arbeiten.
Das elf Hektar große Areal ist von einem 4,50 Meter hohen, mit Natodraht bekrönten Zaun umgeben. Die Mauer dahinter ist noch zwei Meter höher. Das dicht an der ICE-Schnellfahrstrecke liegende Gelände ist videoüberwacht, die Sicherheitszentrale hat eine Standleitung zur Polizei. Ein abgetrennter Trakt für bis zu zehn als besonders gefährlich eingeschätzte Gefangene wurde noch einmal besonders gesichert. „Da kommt keiner raus“, sagen die Bediensteten.
„Wer glaubt, er kann sich hier einen lauen Vollzug leisten, der irrt sich!“ Bei der Begrüßung spricht Anstaltsleiter Helmut Schütze laut und mit scharfer Stimme, auch hier soll Realität simuliert werden, ein bisschen jedenfalls. Der Anstaltschef möchte den Gästen wenigstens für einen Moment das Gefühl vermitteln, „was es bedeutet, in einer Strafanstalt anzukommen“. Zum Abendbrot gibt es Graubrot, Bierschinken und Brie, zwei Würfel Halbfett-Margarine, dazu süßen Früchtetee. Im Essraum sind die Messer an die Tische gekettet, das gibt es sonst in keinem deutschen Knast.
Pannen und Skandale haben den Bau der JVA Rosdorf mehrmals verzögert. Beim Probeeinbau passten Zellentüren nicht in die gelieferten Zargen. Eine Ausrüstungsfirma ging in Konkurs. Die IG Bau deckte Fälle von Lohndumping auf. Für 3,80 Euro in der Stunde hätten polnische Kollegen auf der Knastbaustelle schuften müssen, wetterte damals die Gewerkschaft. Die Landesregierung kündigte schließlich vier Firmen.
Um viertel vor sechs ist Wecken und Lebendkontrolle. „Das heißt wirklich so“, versichert Wolfgang Klettke von der Anstaltsleitung. Seit mehreren erst spät entdeckten Selbstmorden in niedersächsischen Haftanstalten müssen die Bediensteten sich morgens nicht nur davon überzeugen, dass alle Gefangenen in den Zellen sind. „Sondern auch davon, dass alle wohlauf sind.“
Von Wohlauf kann bei einem Zellennachbarn keine Rede sein. „Ich habe beschissen geschlafen“, verkündet er. „Die Matratzen waren viel zu hart, der Lärm von den Zügen war viel zu laut, und als ich das Fenster zugemacht habe, war’s viel zu warm.“ Andere berichten von „so einem komischen Gefühl“, als Vollzugsbeamte gegen Mitternacht die Zellentüren zusperrten. Und ein Rentner aus dem nahen Rosdorf hat den Trakt sogar „als abgeschlossene Welt“ erlebt.
Richtig eingesperrt oder fremdbestimmt haben sich die meisten Freiwilligen aber nicht gefühlt. Für die richtigen Gefangenen sei aber genau dies das große Thema, sagt Gefängnispfarrer Harms. Menschen fühlten sich in der Haft nun mal wie Vögel im Käfig. „Eingesperrt sein ist dem Menschen fremd“, sagt der Seelsorger: „Der Sünde der Straftat wird die Sünde des Einsperrens gegenübergestellt.“
„Freiheitsentzug ist ein starker Eingriff in die Persönlichkeit“, konstatiert beim Abschlussplenum auch Anstaltsleiter Schütze. Häftlinge würden über Monate oder oft sogar über viele Jahre fremdbestimmt, in dieser Hinsicht sei das Probewohnen „sicher nicht sehr realitätsnah“ gewesen. „Ich nehme es keinem Gefangenen übel, wenn er sich mit Ausbruchsgedanken trägt“, sagt Schütze. Draußen, jenseits der Knastmauer, beschleunigt ein ICE auf seinem Weg Richtung Süden.
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