piwik no script img

Strategischer Optimismus

Ute Scheub erzählt vom maroden System und den Möglichkeiten seiner Unterwanderung

VON GABRIELE GOETTLE

„Der Kapitalismus ruiniert die Springquellen des Reichtums, auf denen er beruht: den Arbeiter und die Natur.“ (Karl Marx)

Ute Scheub, Politikwissenschaftlerin, Publizistin, Autorin, lebt in Berlin. Aufgewachsen in Tübingen, Besuch d. Gymnasiums, 1974 Abitur. Sie absolvierte d. kirchenmusikalische C-Prüfung als Organistin. Studium d. Politologie, Publizistik u. Germanistik an d. Freien Universität zu Berlin. 1978 Mitbegründerin d. taz, daselbst Redakteurin in div. Ressorts. 1980 Diplom ( Politologie). 1991 anlässlich d. Golfkrieges Mitbegründerin d. Frauenaktion Sheherazade, aktiv f. d. intern. Frauenfriedensbewegung. Seit 1997 freischaffende Publizistin. 2010 Promotion. Sie ist in mehreren Projekten ehrenamtlich aktiv, Verfasserin von Büchern u. zahlreichen Texten u. a. zu d. Themen NS, Frieden, Gender, Umwelt u. neue kooperative Arbeits- und Lebensformen. Zusammen mit Annette Jensen schrieb sie über „Glücksökonomie“, d. Buch ist soeben erschienen, ebenso ihr Buch „Ackergifte? Nein danke!“ Ute Scheub wurde 1955 in Tübingen geboren, sie ist verheiratet u. hat einen Sohn. Ihr Vater war Apotheker, die Mutter Hausfrau.

Ute Scheub lebt in einem der schmalen Reihenhäuser der Bauhaussiedlung in Berlin-Zehlendorf. Die Häuser der sog. Papageiensiedlung entstanden zwischen 1926 und 1932, sie haben flache Dächer, zu jedem gehört ein etwa 200 Quadratmeter großer Garten im hinteren Teil des Grundstücks. Der Architekt Bruno Taut wurde von den Nazis als „Kulturbolschewist“ beschimpft und 1933 aus Deutschland vertrieben. Auch heute noch wirkt die Siedlung modern. Die Bewohner gehören dem gehobenen Mittelstand an, viele sind Architekten, Künstler, Schriftsteller. Alle Häuser gleichen sich, bis auf minimale Unterschiede, wie die Farbe der Türen, die Sprossen der Fenster oder die Bepflanzung der kleinen Vorgärten, mit denen man sich abheben möchte vom Haus der Nachbarn. Drei Backsteinstufen mit Geländer führen zu jeder der überdachten Haustüren hinauf, die sich rätselhafterweise nach außen hin öffnen und so den Gast zurückdrängen auf die obere Treppenstufe. Ute Scheub begrüßt Elisabeth und mich mit einem strahlenden Lächeln. Sie bittet uns in ein geräumiges Wohnzimmer, das übergeht in die verglaste Terrasse mit Blick in den verwilderten Garten. Sie bietet uns gastlich Tee, Kaffee, Kekse und Weintrauben an. Auf die Bitte, uns ihre Kritik am weltweit maroden Wirtschafts- und Finanzsystem zu erläutern und ihre Vorstellung einer anderen und besseren Gesellschaftsordnung zu erklären, beginnt sie zu erzählen: „Ich nehme einfach tagtäglich wahr, dass das gegenwärtige System – wenn man es so nennen will, der Neoliberalismus – unglaublich hohl geworden ist. Der amerikanische Kulturphilosoph Charles Eisenstein hat es neulich mal auf einer Veranstaltung in Berlin mit dem Ende der Sowjetunion verglichen, wo niemand mehr den Parolen der politischen Propaganda geglaubt hat. Nicht mal die Politiker selbst. Ich denke auch, dass wir in einer solchen Phase sind. Die Glücksversprechen des Kapitalismus erfüllen sich nicht mehr – wenn sie sich denn je erfüllt haben. Gerade in den USA spielt das ja eine große Rolle, ‚Pursuit of Happyness‘. Das Streben nach Glück ist sogar in der Verfassung eingeschrieben. ‚Vom Tellerwäscher zum Millionär‘ war das Versprechen, aber das funktioniert eben nicht mehr. Heute geht es eher umgekehrt. Das trifft einen Nerv, es ist die Legitimation des Systems, und die ist total unterhöhlt. Deshalb bin ich ein Fan der internationalen Glücksforschung. Sie zeigt, dass Besitz und Wohlstand nicht unbedingt das Glücksempfinden im Sinne einer Lebenszufriedenheit steigern. Wenn man bedenkt, dass in den letzten 30 Jahren das Weltbruttosozialprodukt sich ungefähr versechsfacht hat, soweit ich’s im Kopf habe, und die Lebenszufriedenheit um ein Promille nur gestiegen ist, dann ist das doch eine bemerkenswerte Bilanz, oder? Desaströs! In den 50er, 60er Jahren, da gab es mal einen Höhepunkt, besonders in den USA. Seitdem geht die Lebenszufriedenheit zurück. Drastisch zurück geht sie seit den 90er Jahren. Die Leute wurden immer unzufriedener, sie sind gestresster, gesundheitlich geht es ihnen schlechter, sie werden depressiv, sind isolierter, verängstigter, resignierter. Die rapide angewachsene und weiter anwachsende soziale Ungleichheit trägt natürlich auch massiv dazu bei. Diese Ungleichheit durchdringt wie ein Schadstoff die gesamte Gesellschaft und macht am Ende alle unglücklich. Auch die Reichen.“ Wir lachen.

„Niemand hat mehr was davon, dass er mehr hat als die anderen. Reiche verbunkern sich in ihren eingezäunten Siedlungen, in ihren Villen, zittern um ihre Anlagen, müssen sich Tag und Nacht mit ihrem Geld beschäftigen und haben keine Lebensqualität. Das trifft doch die Legitimation des Systems bis ins Mark hinein! Nur haben das die Linken noch nicht bemerkt. Die Rechten merken es eher, listigerweise. Und der Mittelstand, der merkt es natürlich sehr, weil er zunehmend verschwindet, untergeht. Das ist grob die Situation. Und ich beschäftige mich eben mit jenen Formen von Ökonomie, die glücklich machen, die zufrieden machen. Ökonomie jetzt wirklich verstanden im alten, im griechischen Sinne von Oikos, also dem Haushalt, der der Bedürfnisbefriedigung und dem Glücklichsein dient und nicht dem Geldverdienen und Geldvermehren. Dazu gehören auch Subsistenz, Ernährung und Care, Pflege, ein Geflecht von Beziehungen … Das muss neu gelernt werden. Inzwischen sind die Individuen so isoliert, dass sie den Kontakt zu ihren Mitmenschen, aber auch zu den Mitlebewesen und zur Natur völlig verloren haben. Auch dazu, wie wir die Natur behandeln. Paul Hawken [amer. Umweltschützer und Vertreter einer „ökosozialen-Marktwirtschaft“, Anm. G. G.] setzt die ‚Dienstleistungen der Natur‘ auf unsere Rechnung, als billionenschweren Wert, den der Mensch sich kostenlos aneignet, besonders die Industrieländer, die sich ohne jedes Maß mästen, alles ausplündern, verpesten und ruinieren.

Also in meinen Augen kommt eine neue Phase, es kommt dieses Inter, das Leben in einem Verbund. Also ‚Wir, Ich, Inter‘. Neue Formen der Ökonomie, der Ökologie. Auch die Wiederbelebung alter Formen, die entwickeln sich ja schon seit geraumer Weile überall auf der Welt. Sozusagen parallel und unbeirrt. Es gibt zahlreiche Ansätze. Auf der einen Seite Genossenschaften – eine ziemlich alte Form. Inzwischen mit mehr als einer Milliarde Mitgliedern weltweit, gerade auch in südlichen Ländern. Und dann gibt es die ‚Commons‘, Gemeingüter, die jetzt gerade wiederentdeckt werden und die neue Formen gefunden haben, wie die ‚Wissens-Allmende‘ zum Beispiel im Internet. Zu den Genossenschaften möchte ich noch hinzufügen, dass es dichte Netze der Kooperation gibt etwa in der Emilia Romagna und auch im Baskenland bei Montagon, oder auch ‚Secosesola‘, eine 1967 gegründete regionale Selbstorganisation in Venezuela. Überall dort, wo es eine solche Praxis gibt, ist die Erwerbslosigkeit viel geringer, und den Leuten geht es in jeder Hinsicht besser. Sie helfen sich gegenseitig mit Krediten und es ist selbstverständlich, dass man kooperiert und nicht konkurriert. Das sind nicht nur ländliche Projekte, sondern auch städtische. In Norditalien gibt es eine 160 Jahre alte Tradition. In der Emilia Romagna haben sie alle möglichen Formen von Genossenschaften, Wohnungsbau, Handelsketten, es gibt sogar zahnärztliche Kooperativen. Es werden 40 Prozent des regionalen Bruttosozialprodukts genossenschaftlich erwirtschaftet und sogar 85 Prozent der sozialen Dienstleistungen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist um etwa ein Drittel über dem nationalen Durchschnitt. Es gibt viele Sozialgenossenschaften, die Migranten und Flüchtlinge einbeziehen. Es gibt auch Spannungen durch die politisch unterschiedlichen Ausrichtungen, dennoch hat man einen Grundkonsens.

Ohne Chefs und Hierarchie

Ähnlich ist es im baskischen Montagon, wo es einen riesengroßen Genossenschaftsverband gibt, auch mit dem Ergebnis niedriger Arbeitslosigkeit. Und die Basken in Frankreich haben zum Beispiel auch in vielen Städten Freigeld eingeführt als Parallelwährung. Das funktioniert alles. Sehr spannend finde ich wie gesagt die kooperativen Projekte in Lateinamerika wie ‚Secosesola‘ in Venezuela. Sie haben sich beeinflussen lassen von dem chilenischen Philosophen und Neurobiologen Humberto Maturana und seiner ‚Autopoiesis‘. Es gibt 20.000 Leute in allen möglichen Betrieben, sie haben ein Krankenhaus und sogar eine Sargkooperative. Sie betreiben sehr erfolgreich Wochenmärkte, auf denen die Leute mit genossenschaftlich erzeugtem Gemüse versorgt werden. Komischerweise zum Einheitspreis, egal ob Banane oder Salat. Sie achten auch sehr darauf, dass es keine geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen gibt – ‚soziale Geschlechtskrankheiten‘ würde Christina Thürmer-Rohr sagen. Es gibt keine Chefs, keine Hierarchie, sie haben Einheitslohn, Jobrotation, und alle Konflikte werden gemeinschaftlich geklärt. Jeder hat seine Fähigkeiten, das verteilt sich ganz von selbst und hat sich alles ziemlich autonom entwickelt seit den 60er Jahren.

So viel zu den Genossenschaften, natürlich gibt es viele andere und neue kooperative Methoden: Es gibt die ‚Share Economy‘, bei der das Teilen viel erleichtert. Also eine Datei, die man teilt, die verschwindet ja nicht, im Gegensatz zum geteilten Apfel. Es gibt ‚Coworking Spaces‘- Gruppen, und wie die alle heißen. Da wächst eine neue Kultur heran. Und je mehr sich diese neuen Formen verbreiten, umso besser. Dass ich ein Auto mit anderen teile, ist gut, denn es spart 7 bis 13 Privatautos. Oder dass ich in einer fremden Stadt bei jemandem unterkomme, statt ein Hotelzimmer zu nehmen, ist gut, oder auch, dass ich mein Essen teile … ein Fest mache und dann die Essensreste jemand anderem gebe. Je mehr Leute sich daran gewöhnen, desto mehr werden erkennen, dass Besitz nicht glücklich macht und gar nicht wichtig ist. Und weil dieses Teilen und gemeinsame Nutzen ein sozialer Akt ist, weil sich viele soziale Kontakte erschließen, ist es etwas, das Spaß macht, Freude verursacht.“

Wir wenden ein, dass die inflationäre Rede vom Teilen – insbesondere wenn sie sich auf Privatautos, Büroräume oder Betten in anderen Städten bezieht – die Tatsache ignoriert, dass es hier nicht ums Teilen geht, sondern um ein Geschäftsmodell von Start-up-Unternehmen, die über Onlineportale ihre Vermittlungsdienste anbieten. (Airbnb etwa, ein 2008 im Silicon Valley gegründeter Community-Marktplatz, vermittelt gegen Gebühr weltweit private Unterkünfte und macht Marketing-Geschäfte unter anderem mit Pepsi und Ikea. Er ist inzwischen, laut Wall Street Journal, mehr als 10 Milliarden Dollar wert und wird wohl demnächst an die Börse gehen.)

„Weiß ich, weiß ich“, ruft Ute Scheub und lächelt gewinnend. „Viele der neuen Formen sind kommerzialisiert worden, das streite ich überhaupt nicht ab, das finde ich natürlich nicht so erfreulich. Es ist ambivalent. Trotzdem hat das Teilen das Neue in sich, in meinen Augen. Es hat ein enormes Potenzial. Jedes Wirtschaftssystem ist immer im Bauch des alten entstanden. Den großen Vorteil sehe ich darin, dass Menschen sich daran gewöhnen, nur noch zu nutzen und nicht mehr zu besitzen. Viele junge Leute haben diese neue ‚Nichtbeziehung‘ zum Besitz. Und auch zum Geld – und interessanterweise auch zur Macht. Viele sind wesentlich egalitärer, als wir es waren. Es gibt schon seit den 80er Jahren zahlreiche absolut nichtkommerzielle Projekte wie Umsonstläden, Volksküchen, Tauschringe usw. Und es gibt immer mehr nachbarschaftliche Projekte. Wir haben das ja auch hier in der Siedlung seit Längerem kultiviert, und zwar in der Form, dass wir diese ‚Nachbarschaftsgalerie‘ gegründet haben im U-Bahnhof Onkel-Toms-Hütte. Zum einen, um stadthistorisch ein bisschen zu informieren, auch über Bruno Taut. Zum anderen, um einen Treffpunkt zu haben. Wir machen Ausstellungen, Lesungen, Veranstaltungen, und wir haben einen Tauschring. Es kommen auch jetzt immer mehr Leute von außen, also nicht nur die Bewohner der Siedlung. Dadurch mischen sich die Schichten ein bisschen. Man trifft sich, redet miteinander, alles ist ganz zwanglos.

Es wurde zum Beispiel mal ein Film vorgeführt über Heidemarie Schwermer, eine ehemalige Lehrerin, die seit 17 Jahren ohne Geld lebt. Ihre Pension verschenkt sie. Oder wir haben Raphael Fellmer eingeladen, der seit 2010 gemeinsam mit seiner Familie ohne Geld lebt, einen Geld- und Konsumstreik und eine ‚Food Sharing‘ Initiative aufgebaut hat. Es nimmt immer mehr zu, dass Leute radikal ohne Geld leben und nur noch ‚Schenk-Ökonomie‘ betreiben. Das gehört für mich auch zur ‚Glücksökonomie‘, denn es ist einfach eine Tatsache, dass Menschen eigentlich viel lieber geben statt zu nehmen. So im ursprünglichen Sinne … Wir leben ja in einem ungeheuren Überfluss, besitzen viel zu viel! Aber überall wird uns suggeriert: Mangel, Mangel, Mangel! Mangel an allem! Dieser Mangel, dieses Gefühl des Mangels wird künstlich vom Markt erzeugt zur Anfeuerung des Konsumismus. Aber wir könnten morgen, wenn wir alles anders organisieren und verteilen, ALLE zufrieden und glücklich in Hülle und Fülle leben. Dann hätten wir Zeit, uns den eigentlichen menschlichen Dingen zu widmen. Wir, ein paar Freundinnen und ich, sind jetzt übrigens gerade dabei, einen Gemeinschaftsgarten hier in der Siedlung zu kreieren, das müssen wir aber in Absprache mit dem Grünflächenamt machen, und es dauert noch.

Es gibt viele Wege, viele wunderbare neue Formen, wie auch das ‚Urban Gardening‘, das inzwischen ein weltweiter Trend ist, ein enormer Spaßfaktor … Ja, natürlich gibt es dafür oft auch eine ökonomische Notwendigkeit, immer mehr. Man kann jedenfalls von sehr wenig Land leben. Die alten Kulturen in Mexiko haben mit ‚Terra preta‘, der Schwarzerde-Düngung, auf 70 Quadratmeter Land eine Person ernährt. Wir brauchen heute im globalen Durchschnitt in den Industrieländern etwa 2.000 Quadratmeter pro Person. Also die Klimakatastrophe wäre – jedenfalls theoretisch – mit Terra preta aus der Welt zu schaffen! In Japan, wo es ja jetzt durch Fukushima kontaminierte Böden und Nahrungsmittel gibt und große Probleme, da hatten sie schon sehr lange, seit den 60er Jahren, eine ökologische Landwirtschaft, Teikei. Das ist nicht nur ein alternatives Vertriebssystem von Bioprodukten, sondern auch ein ökologisches Produktions- und Konsumtionssystem, eine lokale Partnerschaft zwischen Erzeuger und Verbraucher. Die können mit 1.000 Quadratmeter 2,5 Personen ernähren, wenn ich das richtig erinnere.

Andere Initiativen sorgen dafür, dass Gebrauchsgegenstände möglichst lange genutzt werden, und schonen so die Ressourcen. Ich habe in Österreich ein Projekt besucht und porträtiert: ReVital, das ist, wenn man es mal klassenmäßig zuordnen will, ein Unterschichtprojekt. Für Arbeitslose, die sich dort qualifizieren können. Die reparieren und setzen instand, was andere Leute spenden oder aus Wohnungsauflösungen abgeben. Die Sachen werden dann wieder verkauft unter der Marke ReVital. Das gibt es in ganz Österreich, da sind die einfach weiter als wir. Es gibt viel mehr diese Re-Use-Kultur und viele Repair-Cafés, wo Leute ihre kaputten Dinge und Geräte hinbringen und unter fachmännischer Anleitung selbst reparieren können. Diese Idee wurde von der niederländischen Journalistin Martine Postma 2007 ins Leben gerufen und hat sich inzwischen weltweit verbreitet. Auch in ganz Deutschland.

Und natürlich möchte ich die Commons-Bewegung erwähnen, die schwer im Kommen ist. Man redet ja schon von ‚Commonismus‘. Andere reden von ‚Commonie‘. Also wenn man sich vorstellt, common vernetzen sich alle … Staat und Markt werden abgeschafft. Der Endzustand würde dann Communie heißen. Sagt jedenfalls Johannes Heimrath von der Zeitschrift Oya. Wenn wir zur Tür rausgucken, die Natur, die Luft der Boden, das Wasser, die Straßen, aber auch unser Wissen, die Sprache, das alles ist Commons. Die Wirtschaft möchte das natürlich an sich reißen, es privatisieren. Und da finde ich es schön und vor allem sehr wichtig, dass sich eine neue Bewusstseinsform entwickelt, die sich jenseits von Markt und Staat orientiert. Viele Ideen haben ja auch Witz, was in meinen Augen sehr wichtig ist. Lachen, Witz, Selbstironie, die müssen auch einfließen in die Art und Weise, wie die Projekte kommunizieren. Der subversive Witz ist ganz wichtig. Wie heißt es so schön: Ein Lachen wird es sein, das sie beerdigt … oder besiegt?!

Sehr interessant auch, in England gibt es ja diese ‚Transition Towns‘. Totnes war 2006 die erste Stadt. Inzwischen gibt es zahlreiche ‚Übergangsstädte‘, die ihre ‚Energiewende‘ selbst in die Hand nehmen, weil die Politik versagt. In Eigeninitiative versuchen die Bürger, sich einzuschränken und ein sozial- und umweltverträgliches Wirtschaftsleben zu organisieren. Das heißt: Energieverschwendung radikal eindämmen, alternative Energiegewinnung fördern und die lokalen Kreisläufe wiederbeleben, gemeinschaftlich und in Selbstorganisation. Peak Oil, Klimawandel, ökonomische Krisen, Arbeitslosigkeit, der Zustand von Kulturland, Wasser und anderen Ressourcen, das alles macht vollkommen neue Lebensweisen notwendig. ‚Transition Town‘ ist Klimaschutz und Energiewandel von unten. Ein Projekt aus der Graswurzelbewegung. Initiatoren waren der irische Wissenschaftler und Permakultur-Aktivist Rob Hopkins und seine Studenten. Inzwischen gibt es mehr als 1.200 Initiativen in 43 Ländern der Welt, auch in Deutschland. In der Schweiz gibt es eine im Ansatz ähnliche Bewegung, ‚Neustart Schweiz‘, die sagen, wenn wir weltweit gerecht die Ressourcen verteilen wollen, dann dürfen wir nicht mehr als 2.000 Watt verbrauchen, und wir müssen uns relokalisieren, Siedlungen und Gemeinschaftsprojekte aufbauen, denn Nachbarschaften und Commons sind die Basis einer zukunftsfähigen Lebensweise.

Wirtschaft der Kooperation

Und dann gibt es noch die ‚Gemeinwohl-Ökonomie‘, die ist auf dem Mist gewachsen von Christian Felber, dem früheren Attac-Sprecher Österreichs. Er hat das Projekt ‚Bank für Gemeinwohl‘ gegründet und möchte die Wirtschaft auf den Kopf stellen. Er sagt, der Kapitalismus fördert die schlechtesten Eigenschaften des Menschen, Gier, Konkurrenz, Neid und Hass, all das, was wir nicht mehr brauchen können. Wir brauchen eine Wirtschaft, die die Kooperation fördert, das Gemeinwohl, das Glück, die Zusammenarbeit und, und, und.“ Wir räuspern uns geflissentlich. Ute Scheub sagt leicht ungeduldig: „Er hat das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie zusammen mit mehreren lokalen Unternehmern entwickelt als Alternative sowohl zur kapitalistischen Marktwirtschaft als auch zur kommunistischen Planwirtschaft, wie er selber sagt. Es geht natürlich nicht mit Aktiengesellschaften, denn die sind ja rechtlich verpflichtet, Profite für ihre Aktionäre zu machen. Aber er fordert eben alle jene auf, für die das infrage kommt und die das teilen, dieses Rumdrehen. Die sind eingeladen mitzumachen – eine Gemeinwohlbilanz zu erstellen. Da geht es im Unternehmen eben nicht mehr nach den alten Profitregeln, sondern es gibt eine Gemeinwohlmatrix, es wird mit Punkten belohnt, wer zum Beispiel Frauen fördert, einen Betriebskindergarten eröffnet, lokale Ressourcen oder Bio nutzt, seine Mitarbeiter mitbestimmen lässt und sie beteiligt, in Form von Genossenschaften oder in anderer Form. Es sind tausend Punkte möglich, die hat aber noch keiner erreicht.

Er hat das vor ein paar Jahren in die Welt gebracht, und inzwischen gibt es zahlreiche Initiativen, auch in Lateinamerika, Spanien, Italien. Die meisten Projekte sind eher klein, aber es gibt auch große. Beispielsweise die Sparda Bank München. Sie beteiligt sich seit 2011, und die haben nun wirklich einen Milliardenumsatz.“ [1930 gegründet als Genossenschaftsbank für Eisenbahner, war sie bis in die 80er Jahre allein ihnen vorbehalten. Heute hat sie 250.000 Mitglieder. Anm. G. G.] „Der Chef der Bank, Helmut Lind, war ein ganz normaler Bankmanager, bevor er umgedacht hat. Er macht jetzt Gemeinwohlbilanz und geht mit den Angestellten ganz anders um. Und er praktiziert Transparenz, die Eigenanlagen werden offengelegt, sie machen keine Rohstoffgeschäfte mehr, keine Währungskäufe. Also, das ist schon ein Unterschied! Auch der Berliner Biobäcker ‚Märkisches Landbrot‘ ist dabei. Sie geben den Bauern etwa einen Festpreis für Getreide, auch wenn die Ernte ausfällt. Das ist doch gut! Die taz“, sagt sie lachend, „wird jetzt auch Gemeinwohl-Betrieb. Sie ist gerade dabei, eine Bilanz zu erstellen. Ja, es zieht unheimliche Kreise. Ich sehe da kein Problem, in meinen Augen wächst das zusammen, sowohl die alte solidarische Ökonomie als auch die neue Gemeinwohl-Ökonomie.

Ein anderes Projekt ist die ‚Blue Economy‘ von Gunther Pauli, einem belgischen Unternehmer und Umweltschützer. Der ist in beiden Welten zu Hause, in der Welt der großen, fetten Unternehmer und in der Welt der Alternativen. Der fängt jetzt an – ganz irre –, die Korallenriffe wiederaufzuforsten mithilfe von niederländischen Fernsehantennen. Auf denen pflanzt er Korallenpioniere an.

Ich war jetzt gerade auf der ‚Conference of Degrowth‘ in Leipzig, einem internationalen Kongress, der zum vierten Mal stattfand. Es geht um andere Wirtschaftsweisen, theoretisch und praktisch. Ich bin mit dem Rad hin gefahren, zusammen mit einer Gruppe. Dieses Mal standen konkrete Schritte für eine Gesellschaft jenseits von Wachstumszwängen im Mittelpunkt. Sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler waren da. Es war sehr spannend. Und es stimmt hoffnungsvoll, zu sehen, wie viele Ansätze und Projekte es schon gibt, wie rasant sie sich entwickelt, diese neue Art des Wirtschaftens und die neue Art auch des Philosophierens, des Kommunizierens und Entscheidens. Dezentral, lokal, gleichberechtigt, egalitär, partizipativ. Das alles wird schon praktiziert vielerorts, vollzieht sich ohne spektakuläre Auftritte. Das finde ich sehr bemerkenswert. Der Wandel der Gesellschaft wird nicht mehr frontal, durch Gewalt und Blutvergießen, herbeigeführt, er vollzieht sich subversiv, durch Unterwanderung, ich nenne es immer Durchwucherung. Offener Kampf ist Kraftverschwendung, er bringt nichts, das wurde schon durchprobiert. Aber durch einfaches Tun, wie zum Beispiel durch Commons-Formen in der solidarischen Landwirtschaft, wo sich Erzeuger und Verbraucher zusammenschließen, oder wie es bei den erneuerbaren Energien der Fall ist, da kommt man weiter.

Und das ist meine Hoffnung, dass es ausstrahlt, dass die Leute sehen, wenn ich das praktiziere, wenn ich in meinem ‚Inter‘ lebe, in meinem Verbund, dann lebe ich wirklich glücklich. Ich muss mir nicht mehr so viele Sorgen machen, dass ich dann, wenn mir was passiert, allein dastehe mit meinen existenziellen Nöten. Also jetzt hier in unserer Nachbarschaftsinitiative, die rutschen – wenigstens bei denen, die sich beteiligen – nicht mehr einfach durchs Raster. Wenn mal jemand im Krankenhaus liegt oder so, da kümmert man sich dann. Das ist eine große Chance. Wir haben es selbst in der Hand. Es geht ums Vernetzen, um ein Geflecht von sehr vielen und sich ständig vermehrenden Initiativen und Projekten. Und da möchte ich noch mal auf Paul Hawken verweisen, der die These vertritt, dass es noch nie in der Menschheitsgeschichte so viele Individuen gab, die aktiv sind. Er nennt sie das soziale ‚Immunsystem der Erde‘.

Jedenfalls ist es eine Tatsache, immer mehr Leute wollen nicht mehr mitmachen, sich nicht mehr ‚zwangsernähren‘ lassen von der Agrarindustrie mit pestizidbelasteten Lebensmitteln. In meinem letzten Buch beschäftige ich mich damit, wie wir traktiert werden mit den diversen Giftkombinationen von Agrarchemie- und Biotech-Konzernen wie Monsanto. In der Bevölkerung hat es inzwischen ein totales Umdenken gegeben, das hat in den letzten Jahren exponentiell zugenommen. Die Leute möchten nicht mehr bewusstlose Konsumidioten sein. Die ‚Rüstungsspirale‘ der Produktion von überflüssigen Gütern und Statussymbolen kollabiert, und es gelingt nicht mehr so richtig, den Menschen einzureden, dass sie das alles brauchen, dass das Leben ein Konkurrenzkampf ist, in dem es Sieger und Verlierer gibt.

Diese Einzelkämpfergesellschaft, dieses auf Konsum und Profitmaximierung basierende Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, all das ist feindselig, und es macht einfach nur isoliert und unglücklich. Es ist unübersehbar, wir sehnen uns doch alle … erstens nach den sozialen Akten, zweitens auch nach den natürlichen Dingen. Die Leute wünschen sich im Grunde ein gemeinschaftliches, harmonisches Zusammenleben mit anderen Menschen und auch mit der Natur. Selbst unpolitischen Menschen macht es einen Riesenspaß, etwas wachsen zu sehen. Es geht um ein neues Verhältnis zu Umwelt und Natur, zu einer neuen ‚Sorgsamkeit‘, ‚Achtsamkeit‘ – auch wenn das jetzt das zweite Wort ist neben ‚Nachhaltigkeit‘, das man nicht mehr verwenden sollte, weil es missbraucht wird für alles und jedes. Der Bruch jedenfalls mit der allgegenwärtigen Verwertungs-, Einheits- und Wachstumslogik des Kapitalismus führt zwangsläufig und Schritt für Schritt zu seiner Ablösung durch ein neues und anderes Wertesystem. Vielleicht müssen wir durch einen furchtbaren Kollaps hindurch, oder durch mehrere … Es ist alles möglich. Aber auch wenn es im Moment ziemlich übel aussieht, glaube ich doch mit strategischem Optimismus daran, dass wir diese Chance haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen