: Hertha sucht Platz für den Nachwuchs
Die Berliner haben viel investiert in junge Talente – und das erfolgreich. Jetzt steht die Mannschaft vor einem ungewohnten Problem: Die Hertha hat zu viele gute Nachwuchsspieler, für die im Bundesligateam kein Platz ist
Fußball-Regionalligist FC Ingolstadt hat sich die Dienste von Andreas Neuendorf gesichert. Der 32 Jahre alte Mittelfeldspieler wechselt von Hertha BSC zum oberbayerischen Club und erhielt laut Donaukurier einen Zweijahresvertrag plus Option für eine weitere Saison. Für die Berliner und Bayer Leverkusen brachte es „Zecke“ Neuendorf auf 200 Bundesliga-Spiele und 16 Tore. „In Ingolstadt sehe ich die Chance, dass ich noch einmal einen richtigen Kick bekomme und an etwas Besonderem teilnehmen kann“, sagte Neuendorf, der auch mit einem Wechsel ins Ausland geliebäugelt hatte. Darauf angesprochen, sagte er: „Gut, Ingolstadt ist jetzt nicht im Ausland, aber schon ’ne Reise.“ DPA
„Unser Konzept geht langsam auf“, frohlockte Hertha-Manager Dieter Hoeneß im vergangenen Herbst. Die Berliner hatten just die Tabellenführung in der Bundesliga erobert und ernteten viel Lob für ihre Nachwuchsförderung, die, so Hoeneß, „bundesweit große Beachtung und Anerkennung findet“. Stolz verkündete der Manager, dass zwölf der Akteure des Tabellenführers dem eigenen Talentschuppen entstammten. Hoffnungsträger wie Malik Fathi, Sofian Chahed, Patrick Ebert oder die Boateng-Brüder Kevin-Prince und Jerome ließen die 4 Millionen Euro, die Hertha jährlich in die Juniorenschulung steckt, als gute Investition erscheinen.
Nach der so hoffnungsvoll begonnen Spielzeit 2006/2007 – Hertha landete letztlich auf einem tristen 10. Platz – hat sich Hoeneß’ Stimmung getrübt. Die Arbeit mit dem Nachwuchs müsse auf den Prüfstand, verkündet der Manager jetzt.
Einige der umjubelten Jungen führten sich plötzlich wild auf. Jerome Boateng lehnte eine Gehaltserhöhung ab. Das 18-jährige Talent kokettiert mit einem Wechsel zum Hamburger SV. Auch Bruder Kevin (20) wird mit anderen Clubs in Verbindung gebracht. Verteidiger-Begabung Christopher Schorch (18) soll nach gerade mal zwei Bundesliga-Einsätzen mit einem Friseur als Berater zum Vertragspoker angerückt sein. Ashkan Dejagah und Nico Pellatz verabschiedeten sich bereits zum 1. Juli in Richtung Wolfsburg beziehungsweise Bremen. Warum rennen Hertha die Talente davon?
„Hoeneß hat recht, wenn er sagt, dass das Konzept überdacht werden muss“, erklärt Andreas Hahn. Der Berliner, ehemals Trainer von Tennis Borussia und der Stadtauswahl, arbeitet als Talentscout für Herthas Bundesliga-Konkurrenten Bayer Leverkusen. Seine Diagnose: „Hertha hat einen regelrechten Talentestau. Der Verein hat über 20 Jugendnationalspieler. Das ist Wahnsinn.“
Dieser Wahnsinnsstau führe zu gefährlichen Kollisionen, wenn die Teens zu den Profis aufrückten. „Wenn die Jungs 18 Jahre alt sind, ist meist Ende. Dann haben sie die 19-Jährigen vor sich, die ihnen den Weg versperren.“ Hahn plädiert deswegen für ein frühzeitiges Auswahlverfahren, um den Stau aufzulösen: „Wenn Talente 15 oder 16 sind, musst du entscheiden: Dieser Junge ist in Zukunft unsere Nummer eins auf einer bestimmten Position. Wenn ich zehn Talente habe, muss ich aussortieren, so dass mit 18 Jahren noch drei übrig bleiben. Bei Hertha drängen viel mehr Talente nach.“
Kurios und gnadenlos: Der Überfluss ist auch der Not geschuldet. Hertha drückt ein hohes Defizit, da verbieten sich teure Transfers von anderen Vereinen. Eigene Talente sind billiger, aber offenbar nicht williger, wenn’s um den Lohn geht.
Bayer-Späher Hahn: „Wenn man so viele Jugendnationalspieler hat, muss man finanzielle Rückstellungen bilden. Das hat Hertha versäumt. Man greift hauptsächlich aus wirtschaftlicher Not auf den Nachwuchs zurück. Jetzt fehlt das Geld, um einen Jerome Boateng oder Ashkan Dejagah zu bezahlen.“
Noch etwas kreidet der Leverkusener dem Berliner Branchenprimus an: dass Hertha keine starke Nummer zwei in der Stadt habe groß werden lassen zwecks gemeinsamer Jugendpflege. „Hertha hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Real Madrid hat in Cádiz ein Farmteam aufgebaut. Hertha hätte vor zehn Jahren den 1. FC Union stark machen müssen.“ In Köpenick hätten Jung-Herthaner „geparkt“ werden können, um Spielpraxis zu sammeln. Heute gelten Talente aus dem Olympiastadion bei Union als finanziell nahezu unerschwinglich. JÜRGEN SCHULZ
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