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IN MITTE IST ES EHER SELTEN, IN KREUZBERG MACHEN ES ALLE: DUZENDer Kiez sagt Du

VON URLICH GUTMAIR

NEUE WERTE

You can take a nigger out of the Westside. But you can’t take the Westside out of a nigger, sagen sie in Baltimore. Dass es sich um eine universelle Weisheit handelt, halte ich für erwiesen, nachdem ich mich einen ganzen Monat lang ins kreuzbergische Exil begeben habe. Was einer Mitteperson in Kreuzberg als Erstes auffällt, ist das Duzen. Die Alten duzen die Jungen, die Jungen duzen die Alten, die Istanbuler duzen die Tübinger, die Libanesen duzen die Ghanaer. Ich schwöre, ich bin in Kreuzberg in vier Wochen kein einziges Mal gesiezt worden.

Ich hatte schon im vergangenen Jahrhundert mit dieser hippiehaften Unsitte aufgehört. Anlass waren die Post-68er-Dozenten an der Freien Universität, die alle duzten und sich duzen ließen, als seien wir nicht die Studenten und sie nicht die Dozenten. So lockten sie die Subalternen in die Kumpelfalle. Seitdem sieze ich quasi alle, außer meiner Frau.

In Kreuzberg aber machten es alle mit allen, auf Deutsch und auf Englisch. Brachte ich am Samstagvormittag Leergut zum Getränkeladen, wurde ich von einem jungen schwarzen Mann belehrt: Alcohol is killing you, man! Dann ging er kopfschüttelnd davon, eine Flasche in der Hand. Sagte ich an der Kasse entschuldigend: Sorry, bei mir klingelt’s, ich muss mal eben rangehen, bekam ich zur Antwort: Kein Problem, lass dir Zeit!

When in Rome, do as the Romans, sagte ich mir, und duzte zurück. Das war okay, weil auf der Reichenberger, der Manteuffel oder am Kotti gar nicht erst der Verdacht aufkommt, das Du diene der Verschleierung von Klassenlagen und Machtverhältnissen. Es ist kein Ikea-Du. Es ist das Du von Nachbarschaften, in denen alle von irgendwoher kommen und sich irgendwie durchschlagen. Diese postmigrantische, urbane Kommunalität, vor der alle gleich sind, begreifen Vorstadtkleinbürger wie Sarrazin nicht. Sie schämen sich nicht, Leute vor laufender Kamera zu duzen, die sie bei nächster Gelegenheit zu genetisch bedingten Idioten erklären.

Es war mir sympathisch, wie sie im Kernland von SO36 miteinander redeten, auch innerlich war ich fast schon zum Du konvertiert. Dann wanderte ich an meinem letzten Samstag im fremden Kiez mit Michael durch die Stadt. Wir zogen einen großen Bogen, liefen an den anbiederischen Neubauten von Labels und Konsorten am Spreeufer entlang, stachen durch den Treptower Park und schlenderten am Kanal entlang zurück. Der Bogen wurde zur Spirale, die immer enger wurde.

Mit Erika & Hilde fing es an, ging weiter mit Rudimarie und hörte schließlich überhaupt nicht mehr auf. Da gab es Goldmarie und Mathilda, das Frollein Langner und die Tante Lisbeth, Heinrich & Nathanja. Manche der neuen Läden sahen aus wie Omacafés, andere wie Berlin-Mitte anno 1992, mit kahlen Wänden und Spermüllsofas. Wo waren die alten Eckkneipen hin, die proletarischen Ich-AGs der Mandy’s und Sandy’s? Wir waren in dem Kiez angekommen, den sie Kreuzkölln nennen. Hier gab es Eierwärmer in der neuen Modefarbe Gelb, die ein veganes Designerkollektiv aus Devonshire gestrickt hat, und dänische i–Phone-Gummis in Mattschwarz, die so taten, als seien sie eine Kassette. Es gab vielerlei Kinkerlitzchen, die auch die heimischen Jeepfahrer als i-Tüpfelchen ihres Lifestyles konsumieren. Aufgetunte, leicht ironische Biederkeit, diese Geißel von Mitte, plagte nun also auch 36 und Neukölln. Von Eierwärmerverkäuferinnen geduzt zu werden machte die Sache nicht besser.

Wir beschlossen den Tag bei Madame Claude. Gegen 12 war in dem ehemaligen Kellerpuff das letzte Sauerstoffmolekül verbraucht. Die Barfrau fragte: Möchtest du noch was? Ich antwortete: Nett, dass Sie fragen. Aber ich glaube, ich möchte jetzt gern nach Haus.

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