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Teufel an der Wand

Die terroristische Gefahr in der Zeit Elisabeths I. – Dieter Kühn schreibt einen nicht nur historischen Roman: „Geheimagent Marlowe“

Zwei Fragen fachen im angelsächsischen Raum seit Generationen die Leidenschaft detektivisch geschulter Literaturliebhaber und Schriftsteller an. Die erste lautet: „Wer schrieb William Shakespeares Dramen?“, die zweite: „Wurde Christopher Marlowe, der Tragödiendichter, Zeitgenosse Shakespeares und Geheimagent der britischen Krone, tatsächlich am 30. Mai 1593 in Deptford ermordet?“ Beide Fragen hängen zusammen. Denn falls der Mord an Marlowe ein Fake war, inszeniert von seinen Agenten-Freunden, um ihn vor einer drohenden Anklage wegen Blasphemie zu retten, ist er einer der Hauptkandidaten für die Autorschaft zumindest der Sonette Shakespeares. Falls Marlowe aber tatsächlich ermordet wurde, bleibt die Frage: Warum? Auch dies seit langem ein Feld scharfsinniger Spekulationen, die durch periodische Dokumentenfunde stets neuen Auftrieb erhalten.

Erfreulicherweise hat Dieter Kühn in seinem Roman „Geheimagent Marlowe“ der Versuchung widerstanden, eine neue Variante zur Aufklärung des Mordes an dem großen Marlowe beizutragen. Sein Interesse gilt viel mehr dem jungen Dichter (er starb 29-jährig) als dem Geheimagenten. Und Kühn interessiert sich für den Kontext, den Geheimdienst Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth I., unter Leitung von Sir Francis Walsingham.

Vor allem Letzteres ist eine glückliche Idee Kühns. Geheimagenten gab es schon in der Antike, aber Walsinghams „Secret Service“ war das erste moderne Unternehmen dieser Art. Der Geheimdienst verfügte über eine große Zahl ausgebildeter Agenten an Europas Fürstenhöfen bis hin zur Hohen Pforte, er unterhielt ein Kuriernetz, Spitzelberichte wurden systematisch ausgewertet. Lord Walsingham war neben Lord Burghley die Hauptstütze Königin Elisabeths im „Privy Council“ der Krone.

Dieter Kühns Roman konstruiert ein Spannungsfeld zwischen dem Dichter, seinen Geheimdienstkollegen, der rivalisierenden Truppe des französischen Geheimdienstes und der Leitung des Secret Service in London. Der Roman besteht ausschließlich aus fingierten Dokumenten; wie auch die Handlung, ein militärischer Spionageauftrag für Marlowe zur Erkundung von französischen Festungsanlagen, erfunden ist. Der Duktus dieser Dokumente verrät Vertrautheit mit der elisabethanischen Welt, vermeidet aber jede künstliche Anlehnung an den Sprachgebrauch der Renaissance. Marlowe selbst erscheint nicht als intellektuell überlegene, ja titanische Natur, als machtversessener Erzzyniker. Sondern er ist gleichzeitig Täter und Opfer des großen Spiels. Er wird erpresst, täuscht und betrügt andere. Denn die dämonischen Helden von Marlowes Dramen sind eben, das weiß Kühn, kein Alter Ego des Dichters.

Kühns Roman ist nicht nur vergnüglich zu lesen, er trägt – qua Analogie – auch einiges bei zum Verständnis unserer gegenwärtigen Gemütslage angesichts der terroristischen Gefahr. Denn wenn es ein durchgehendes Gefühl im Elisabethanischen Zeitalter gab, dann war es die Angst, Attentate auf die geliebte Königin und ihren Stab könnten die so mühselig erreichte Stabilität des Reiches zerstören und erneut das Chaos heraufbeschwören. Schon als Student hatte Marlowe als Agent aus dem französischen Reims von dortigen papistischen Umtrieben berichtet und bei der Aufdeckung des „Babington Plot“, einer Verschwörung zur Ermordung Elisabeths, beigetragen. Die terroristische Gefahr, die Verschwörung zur Ermordung der Queen, war einerseits höchst real, andererseits aber wurde sie zu einer Obsession, einem Wahngebilde. Stets muss die Obrigkeit wachsam sein und, wie der Shakespeare-Forscher Ulrich Suerbaum sagt, mit Inbrunst den Teufel an die Wand malen. Es ist diese Angst, die in Dieter Kühns „Geheimagent Marlowe“ die Grundmelodie abgibt. CHRISTIAN SEMLER

Dieter Kühn: „Geheimagent Marlowe“. Fischer, Frankfurt a. M. 2007, 264 Seiten, 18,90 Euro

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