KUNST DES NEINSAGENS: Ein später Nachruf
Eugen war der letzte Punk in Prenzlauer Berg. Er lebte auf der Straße, rund um die Kastanienallee. Zehn Jahre lang fragte er mich nach Zigaretten und ein wenig Kleingeld. Manchmal blieb ich stehen, rauchte eine mit ihm. Er war eine 5-Minuten-Zigaretten-Bekanntschaft. Er starb im Sommer, mit 33 Jahren.
Ursprünglich kam er aus Kasachstan, ein bürgerliches Leben konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Einmal sagte er zu mir: „Weißt du, ich habe eine eigene Lebensphilosophie. Kennst du diesen Spruch: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Mein Spruch heißt: Der späte Wurm verarscht den frühen Vogel.“ Eugen war unbedingt ein Unangepasster, ein Herumstreuner, ein Träumer, ein Alkoholiker – für manch einen aus der schönen neuen Welt von Prenzlauer Berg verkörperte er auch einfach nur den Abschaum der Gesellschaft.
Ein paar Tage vor seinem Tod begegnete ich ihm im Mauerpark. Er sah schlimm aus, war abgemagert, hatte Schürfwunden überall im Gesicht. Ich gab ihm eine Zigarette und sagte: „Scheiße, Eugen, du siehst grausam aus. Du bringst dich um. Muss das denn wirklich sein?“ Mit einem mühsamen Lächeln antwortete er: „Ja, es muss sein. Ich bin kein großer Fan des Lebens. Und ich werde es bestimmt auch nicht mehr werden.“
In der Nacht zum 31. Juli hatte er sein Ziel erreicht. Jemand hatte ihm eine Flasche Absinth geschenkt. Am darauffolgenden Morgen lag er tot vor dem Eingang des Pratergartens. Dort, wo Eugen gestorben war, hatten eine Woche später Freunde und Bekannte von ihm Blumen, Kerzenlichter und Abschiedsbriefe niedergelegt. Es war spätnachts, ich blieb stehen, dachte an ihn. Zwei englische Touristinnen kamen vorbei und fragten mich, ob dies ein Kunstwerk sei. „Ja“, antwortete ich. „Das war die Kunst des Neinsagens, das war die Kunst der langsamen Selbstzerstörung.“ ALEM GRABOVAC
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen