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PIANISTIN. 26. NOVEMBER 1903 – 23. FEBRUAR 2014Alice Herz-Sommer

VON REINHARD PIECHOCKI

Meine erste Westreise 1989 führte mich an die Berliner Musikhochschule. Ich war klavierbegeistert und interessierte mich für die berühmten 24 Etüden Chopins. In der Bibliothek der Hochschule las ich, dass die tschechische Pianistin Alice Herz-Sommer 1943 im Ghetto von Theresienstadt bei einem Konzert für ihre Mithäftlinge die 24 Etüden von Chopin gespielt haben soll. Mein Gott, dachte ich. In einem Konzentrationslager auswendig die Etüden spielen, die zum Schwersten gehören, das fürs Klavier komponiert wurde.

Ob Herz-Sommer das KZ überlebt hatte? Ob sie heute noch lebte? Ich fand es nicht heraus. 13 Jahre später besuchte ich in Greifswald einen großartigen Vortrag von Volker Ahmels, Thema: „verfemte Musik“ im Ghetto von Theresienstadt. Ich fragte ihn, ob er je etwas über das Schicksal von Alice Herz-Sommer gehört hätte. Seine Antwort: „Vorige Woche habe ich sie in London besucht, 99 Jahre alt und quicklebendig!“

Wenige Tage später saß ich im Flugzeug nach London und klingelte an ihrer Wohnungstür. Alice Herz-Sommer öffnete, eine 1,50 Meter große Dame. Für mich war es der Beginn einer intensiven Freundschaft. Mit einer Frau, die mit ihrem Sohn im KZ die Hölle durchlebt hatte und doch den Himmel für jeden eröffnete, der sie kennenlernen durfte.

Sie erzählte mir, wie verzweifelt sie war, als sie im Sommer 1942 ihre Mutter zum Abtransport in ein Vernichtungslager bringen musste. Wie von Sinnen sei sie durch Prag geirrt, als ihr eine innere Stimme sagte: Übe die 24 Etüden, das wird dich retten.

2003 feierten wir ihren 100. Geburtstag in London, 2006 erschien ihre Biografie. Zu ihrem 110. Geburtstag schenkte ich ihr die CD „Alice Herz-Sommer spielt Schumann“, ein Mitschnitt ihres letzten Konzerts.

Reinhard Piechocki, 65, ist Biologe und Autor. Er hat die Biografie von Herz-Sommer verfasst

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