: Unsichtbare Ketten
Seit 1998 begeht die UN-Kulturorganisation Unesco alljährlich am 23. August den Internationalen Tag zur Erinnerung an den Sklavenhandel und dessen Abschaffung. Der Gedenktag erinnert an den großen Sklavenaufstand am 23. August 1791 in der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, die das Land 1804 in die Unabhängigkeit unter Leitung ehemaliger Sklaven führte. Drei Jahre später verfügte Großbritannien, damals mächtigste Handelsnation der Welt, ein weltweites Verbot des Sklavenhandels. Aber noch heute leben Millionen von Männern, Frauen und Kindern in Sklaverei oder in sklavenähnlichen Verhältnissen. Die britische Organisation Anti-Slavery spricht von 12 Millionen Sklaven weltweit. Zum heutigen Gedenktag wird in der englischen Hafenstadt Liverpool ein internationales Sklavereimuseum eröffnet. DJ
VON DOMINIC JOHNSON
Aminata ist neun Jahre alt. Sie ist das jüngste von 15 Kindern. Sie lebt bei ihrer Tante in Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott. Während die Kinder der Tante sich morgens auf die Schule vorbereiten, macht Aminata ihnen Essen. Tagsüber putzt sie das Haus, wäscht und geht einkaufen. Wenn abends die Familie vor dem Fernseher sitzt, steht Aminata am Herd und kocht. Sie geht als Letzte zu Bett und steht morgens als Erste auf. Aminata ist Haussklavin in Mauretanien, dem letzten Land der Welt, in dem die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde.
Seit dem historischen Gesetz vom 8. August wird in Mauretanien über diese Zustände breit diskutiert. Meist sind es Familien ehemaliger Sklaven, die ihre Töchter als unbezahlte Bedienstete in Familien früherer Sklavenhalter schicken – sodass Sklavenverhältnisse von Generation zu Generation weitergetragen werden. „Das Schicksal dieser Mädchen ist ein Bruch des neuen Gesetzes gegen die Sklaverei“, dozierte letzte Woche die mauretanische Zeitung Nouakchott Info. „Sklaverei findet nicht nur auf Palmenplantagen oder unter Kameltreibern statt. Manchmal gibt es sie auch bei den Nachbarn. Der Einsatz von Dienstmädchen ist so verbreitet, dass bei konsequenter Anwendung des Gesetzes zahlreiche ‚respektable‘ Familien auf der Anklagebank sitzen würden.“
Eigentum an Menschen
Sklaverei – der Zustand, dass ein Mensch formell Eigentum eines anderen ist – gibt es in der Sahelzone Afrikas seit Menschengedenken. Vor hundert Jahren, bei Anbruch der französischen und britischen Kolonisation, war im Sahelgürtel von Mauretanien bis Sudan die Mehrheit der Bevölkerung Eigentum der wenigen reichen und anerkannten Familien und Clans. Muslimische Großreiche, die den Transsaharahandel kontrollierten und im 19. Jahrhundert in Kriegen auch nach Süden vordrangen, versklavten nichtmuslimische Bevölkerungen entweder zum Eigengebrauch in der Familie, auf Pflanzungen oder als Viehhirten oder zum Export in den arabischen Raum. Auch weiter südlich, im schwarzafrikanischen Küstengürtel Westafrikas, war der Export von Sklaven an europäische Händler gang und gäbe, bis zu dem Verbot, das Großbritannien vor genau 200 Jahren als erste Nation verfügte und das in den nachfolgenden Jahrzehnten durchgesetzt wurde.
Als 1906 das neue Kolonialgebiet Französisch-Westafrika die Sklaverei für „unvereinbar mit dem Gesetz“ erklärte, begaben sich in weiten Landstrichen die meisten Menschen sofort auf Wanderschaft, weil sie dachten, sie seien jetzt frei. Die einstigen Sklavenhalter reagierten, indem sie die verlassenen Felder bei der Kolonialbehörde als ihr Eigentum anmeldeten, wodurch die fortgelaufenen Sklaven zu einem landlosen Proletariat wurden. Viele von ihnen verdingten sich später bei der französischen Armee oder wanderten auf die Kakaoplantagen der Elfenbeinküste, wo ihre Nachfahren bis heute um die vollen Bürgerrechte kämpfen.
In Regionen, wo saisonale Migration durch Nomaden mit sesshaftem Bauerntum koexistieren muss, wo Wasser und fruchtbares Land knappe Güter sind – da erwies es sich immer als vorteilhaft, wenn die uralten Festlegungen unangetastet bleiben: Wer hat ein Recht auf Landbesitz, wer ist davon ausgeschlossen? Wer darf sich zu welcher Jahreszeit wo aufhalten und welcher Beschäftigung nachgehen?
Die Sklaverei war da immer nur eines von vielen Elementen, die die sozialen Beziehungen regelten. Die Sklaverei in Afrikas Sahelzone dauert zum Teil bis heute an – als Minderheitenphänomen, nach außen kaum zu durchschauen, aber tief im kollektiven Selbstverständnis eingegraben. Der Sklavenstatus, so erklären Organisationen wie SOS-Esclaves in Mauretanien oder Timidira in Niger, bedeutet, dass man weder vererben noch erben kann. Sklaven haben keine eigene Familie; sie gehören einer anderen Familie. Kinder von Sklaven sind besitzlos und daher auch dann weiter in Abhängigkeit, wenn sie rechtlich frei sind.
Der Sklave mit dem Status eines Haustieres ist inzwischen selten. Den Sklaven als Abkömmling einer Sklavenfamilie, der das Land eines Grundbesitzers beackert, dem dann die Ernte gehört, gibt es viel häufiger – vor allem bei Grundbesitzern, die als Händler oder Regierungsbeamte weit weg leben. Die Sklavin, die ihrem Herrn sexuell zu Diensten sein muss, weil ihm schon ihre Eltern „gehörten“, ist die düsterste Seite der modernen Sklaverei.
Aufstieg durch Auswanderung
Nach Untersuchungen in Niger und Mauretanien zeigt sich der Sklavenstatus heutzutage außerdem in zwei Bereichen: bei der Entscheidung darüber, ob und wie lange ein Kind zur Schule geht, und bei der Wahl eines Ehepartners. Es ist nach wie vor undenkbar, dass jemand aus einer Sklavenfamilie jemanden aus einer anderen sozialen Schicht heiratet.
„Der Sklave hat kein Recht, sich am bürgerlichen Leben zu beteiligen“, resümiert eine Studie der Antisklavereiorganisation Timidira aus Niger den gegenwärtigen Zustand. „Der Sklave ist kein vollwertiger Mensch – in der Songhai-Kultur nennt man ihn ‚Neun‘ und der vollwertige Mensch heißt ‚Zehn‘. Der Sklave hat keinen Grundbesitz. Dem Sklaven gehören keine Tiere, denn er gehört selbst als Tier einem anderen. Der Sklave kann nur eine Sklavin heiraten und Sklaven zeugen. Der Sklave kann nicht das Gebet leiten, wie gebildet er auch sein mag. Sexuelle Übergriffe auf Sklaven bleiben ungesühnt.“ Diese Zustände gelten, so die Studie, nach wie vor für bis zu 200.000 Menschen im 13 Millionen Einwohner zählenden Niger.
Diese Phänomene erklären, warum die Sahelstaaten bis heute die niedrigsten Einschulungs- und Alphabetisierungsraten der Welt haben und warum der Aufstieg des Einzelnen aus der Armut meist nur durch Auswanderung zu realisieren ist. Neben der Migration in Richtung Europa ist in ganz Westafrika die Zwangsverschickung von Kindern verbreitet; jedes Jahr sind davon mehrere hunderttausend betroffen. Sie werden bei der Hausarbeit oder auch der Arbeit auf Zucker- und Kakaoplantagen in Kamerun, Gabun, Nigeria oder der Elfenbeinküste eingesetzt.
In Mauretanien wird nun nach dem formellen Verbot der Sklaverei über positive Diskriminierung zugunsten der Nachkommen ehemaliger Sklaven nachgedacht. Unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit als „Haratin“ (Mehrzahl: Hartani) bekannt, sind sie die mittellose Unterschicht des Landes. Ihre Slumviertel am Rande der Hauptstadt und auch ihre Dörfer, genannt adwaba, sind die ärmsten. Viele besitzen nach wie vor kein Land und arbeiten auf Feldern anderer Landbesitzer.
Bei der Debatte über das Sklavereiverbot wurden nun Quoten für Hartani in Schulen oder Verwaltungsposten ins Gespräch gebracht. Nur wenn alle Kinder der Nation zur Schule gehen, so ein Argument, können sie sich alle als gleichberechtigte Bürger fühlen. Ein anderer Vorschlag war, einen Kompensationsfonds für Sklaven einzurichten.
Die Frage der Entschädigung ist die heikelste bei der Diskussion über die Überwindung der Sklaverei. Auf einem Kongress in Timbuktu in Mali verlangten ehemalige Tuareg-Sklaven, die dort als „Bellahs“ bekannt sind, das Recht auf Grundbesitz an den fruchtbaren Ufern des Nigerflusses. In Niger, dem ärmsten Land der Welt, erstritt die 18-jährige Sklavin Houalata Ibrahim am 25. Juli umgerechnet 1.500 Euro Entschädigung von ihrem Besitzer Seidimou Hiya.
Politisch heikel wird die Debatte über Sklaverei in der Sahelzone durch andauernden Sklavenhandel in Sudan, dem größten Land der Region. Während des Krieges im Südsudan, als die dortige nichtislamische schwarzafrikanische Bevölkerung gegen Sudans muslimisches und arabisches Regime rebellierte, sollen regelmäßig Angehörige des Dinka-Volks, das die Führung der Südsudan-Rebellen stellte, von Sicherheitskräften der Regierung als Kriegsbeute verschleppt und verkauft worden sein – bis zu 14.000, schätzt der britische Sudan-Experte Peter Moszyinski. Es gibt Mutmaßungen, dass damit auch der Bedarf an Dienstpersonal in Saudi-Arabien auf der gegenüber liegenden Seite des Roten Meers befriedigt wurde.
Laut der deutschen Sudan-Expertin Annette Weber war die Eisenbahnlinie in die südsudanesische Stadt Wau, die wichtigste Versorgungslinie der Regierungsarmee in der Region, auch die wichtigste Route des Sklaventransits nach Norden. Milizionäre u. a. aus Darfur schützten die Züge auf dieser Linie vor Südsudans Rebellen und durften im Gegenzug Sklaven erbeuten. Milizionäre des Fur-Volks aus Darfur stellen jetzt wiederum das Rückgrat der bewaffneten Rebellion in Darfur gegen Sudans Zentralregierung dar – dies erklärt, warum das seit 2005 autonome Südsudan so zurückhaltend dabei ist, den Aufstand in Darfur und den Kampf gegen Vertreibung dort aktiv zu unterstützen.
Darfur ist ein Brennglas der Spannungen des Sahel geworden. Söldner aus Tschad, Niger und Mauretanien sollen bei den regierungstreuen Janjaweed-Milizen kämpfen; Sudans Regierung unterstützt Rebellen im Tschad, und in Niger hat sich eine neue Rebellenbewegung unter den Tuareg-Nomaden gebildet. Sollten sich die vielen lokalen Konflikte der Sahelzone weiter ausbreiten, könnten auch die Konflikte um das Erbe der Sklaverei wieder virulent werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen