: Gruselige Vorhölle
HÖHLEN Hunderttausende von Jahren bot das Innere von Bergen Schutz und Versteck. Die dort gepflegten Gebräuche wecken Angstlust
■ Buchtipp: Heinrich und Ingrid Kusch: „Kulthöhlen in Europa“, vgs, Köln 2001
■ Sonderausstellung in Konstanz: Bis zum 23. Oktober 2011 zeigt das Archäologische Landesmuseum in der Sonderausstellung „Aufbruch Kunst – Mensch und Tier in der Eiszeit“ Höhlenfunde www.konstanz.alm-bw.de
■ Höhlenzentren: www.hoehlen-erlebnis-zentrum.de, www.eiszeitkunst.de
VON CHRISTEL BURGHOFF
Es gibt finstere Orte. Da glaubt man jede Schauergeschichte. Es muss bloß gruselig zugehen wie in der Rothesteinhöhle im Weserbergland. In den pittoresken Holzener Klippen des Ith stehen wir vor einem schmalen Felsspalt. Und dann erwartet uns dieser stockfinstere, kalte, glitschige Gang ins Innere des Berges. Rund 50 Meter arbeiten wir uns vorsichtig mit Taschenlampen voran. Schwarze Spinnen kleben an den Wänden. Am Ende weitet sich der enge Gang zu einem Raum. Archäologen gruben hier im 19. und 20. Jahrhundert die makabren Überreste kannibalischer Mahlzeiten aus. Aufgeschlagene und geröstete Menschenknochen, ein Durcheinander von Tier- und Menschenknochen, Tonscherben und bronzezeitlichem Werkzeug. Was hier wirklich vor sich ging, werden wir niemals wissen. Das Alter der Funde lässt sich ungefähr bestimmen. Die Restmahlzeiten in der Rothesteinhöhle sind 4.000 Jahre alt.
Gut 50 Kilometer weiter östlich. Harzvorland. Das Höhlenerlebniszentrum Iberger Tropfsteinhöhle bei Bad Grund wurde erst 2008 eröffnet, ein moderner Besucherkomplex. Er umfasst eine Schauhöhle und zwei Museen. Eines des Museen birgt eine Sensation. Hier wurde die Lichtensteinhöhle nachgebaut, die bislang letzte entdeckte Kulthöhle mit hervorragend erhaltenen menschlichen Knochen.
Nicht nur Archäologen und Medien, sondern vor allem die Menschen aus Osterode und Umgebung versetzte diese Entdeckung der 80er Jahre in Aufregung. Vor allem deshalb, weil aufwendige DNA-Analysen in einigen Fällen direkte Verwandtschaftsbeziehungen mit heute lebenden Nachfahren aufdeckten. Eine sagenhafte 3.000 Jahre alte Verwandtschaft.
Aufgeschlagen, gegart und gekocht
Ganz neue Gefühle der Verbundenheit hätten diese Menschen zu ihren Vorfahren entwickelt, erzählt Ortrud Krause, die Museumsleiterin. Hinzu kam, dass aus einigen gut erhaltenen Schädeln eine gut aussehende Familie bestehend aus Vater, Mutter und großer Tochter rekonstruiert werden konnte. Sie blicken heute aus Vitrinen die Besucher lächelnd an. Waren das die Opfer kultischer Handlungen, die Opfer von Menschenfressern?
Vorbei an den Schaustücken des Museums erreichen wir die rekonstruierte Lichtensteinhöhle. Kuschelig, warm und trocken ist es hier. Und dekorativ ausgeleuchtet. Ein völlig anderes Ambiente als in der echten Rothesteinhöhle. Mit Blick auf wild durcheinanderliegende Knochen berichtet Ortrud Krause vom aktuellen Stand der Forschung: 60 Personen konnten inzwischen identifiziert werden, Mitglieder eines Clans, die im Verlauf von 100 Jahren eingebracht wurden. Entgegen ersten Vermutungen erwies sich die Lichtensteinhöhle als eine Bestattungshöhle.
Als unser Gespräch auf Kannibalismus kommt, hält Ortrud Krause den Ball flach. Sie vermutet vielmehr ein „selbstverständlicheres Verhältnis zu den Toten“, eingebettet in eine „alte Begräbniskultur“. Und das ergibt Sinn. Statt negative Gefühle oder Sensationslust zu bedienen, bietet das Höhlenerlebniszentrum eine wärmende Erzählung, die aus unseren Vorfahren ein wertvolles Kulturerbe macht. Hier darf man umdenken.
Rund 11.000 Höhlen sind in Deutschland katastermäßig erfasst, mindesten 15 Prozent dieser Höhlen dürften archäologisch interessant sein. Ausgräber fanden haufenweise Knochen von riesigen Höhlenbären, Höhlenlöwen, Höhlenhyänen, selbst von den legendären Säbelzahnkatzen. Daneben die Überreste ihrer Jagdbeute. Die menschliche Konkurrenz der Raubtiere, die Eiszeitmenschen, verspeisten vorzugsweise Mammuts, Rentiere, Wildpferde, Riesenhirsche, Bären.
Schicht um Schicht lagerte sich ab. Jeder Schicht lassen sich Lebensumstände und klimatische Zeiten zuordnen. Ein solides menschheitsgeschichtliches Gerüst. Aber immer wieder einmal fanden und finden Ausgräber rätselhafte menschliche Knochen und Schädel, aufgeschlagen, gegart, gekocht oder verziert und drapiert und zu Kopfnestern arrangiert. Und wir stellen uns die Frage: Was zum Teufel war da los?
Archäologen von heute sind vorsichtig mit Thesen zu Kannibalismus und Menschenopfern. Neue und präzisere Untersuchungsmethoden lassen alte Deutungen leicht als vorschnell erscheinen. Alte Funde werden wieder unter die Lupe genommen. „Demnächst“, sagt Ortrud Krause vom Höhlenerlebniszentrum, „werden auch die Funde aus dem Kyffhäuser neu untersucht.“
Der Kyffhäuser ist ein kleines Gebirge mit vielen Klüften und Höhlen. Auf ein Alter von 370.000 Jahre werden die Schädelreste datiert, die südlich des Gebirges bei Bilzingsleben ausgegraben wurden. Knochen eines vorzeitlichen Menschen, der noch weit vor den Neandertalern lebte. Der renommierte Weimarer Prähistoriker Günter Behm-Blancke fand in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zahllose Überreste kultischer Feiern. Mindestens 130 Menschen sollen hier mit Keulen und Beilen getötet, mit Bronzemessern zerteilt und gebraten oder gekocht und rituell verzehrt worden sein. Aus den Fundzusammenhängen schloss Behm-Blancke auf ein zentrales Heiligtum aus der Bronzezeit.
Frühe Kunst aus Stein und Elfenbein
Natürlich sind Projektionen auf die Vorzeit immer dubios. Andererseits gibt es kaum Gründe, es nicht zu tun. Wir sind den Höhlenmenschen näher, als wir gemeinhin denken. Nicht nur den Bronzezeitlern vor drei- oder viertausend Jahren. Selbst heute noch wären wir eher der Eiszeit als unseren modernen Lebensbedingungen angepasst, meinen Evolutionsmediziner, für große körperliche und mentale Veränderungen sei die evolutionäre Spanne zwischen damals und heute viel zu kurz.
Dass kultische Handlungen nicht nur grausam sind, sondern auch zu Kunst führen, bewiesen bereits die Eiszeitmenschen auf der Schwäbischen Alb. Sagenhafte 35.000 Jahre alt sind die kleinen Stein- und Elfenbeinfiguren, die in Höhlen der Schwäbischen Alb unter Knochen und Schädeln ausgegraben wurden: Mammute, Wildpferdchen, Wollnashörner, Löwen und Tiger. Sogar die Plastik eines Vogels im Flug ist darunter. Und der voluminöse Torso einer Frau. Diese Kunst entstand in etwa gleichzeitig mit den ältesten Malereien in südfranzösischen Höhlen. Und sie ist von derselben Dynamik, Ästhetik und Perfektion. Die größte Überraschung aber ist eine mythische Gestalt aus Mammutelfenbein, der Löwenmensch. Er ist ein Mischwesen mit dem Kopf des Löwen, aber er hält sich aufrecht und hat eher den Körper eines Mannes. Er ist 30 Zentimeter hoch. Vermutlich eine Schamanenfigur. Es sind die ältesten Kunstwerke der Menschheit.
Damals zogen Jäger und große Raubtiere oft über weite Strecken den Herden der Grasfresser, vor allem Rentieren und Wisenten, hinterher. Es gab kaum Bäume, geschweige denn Wälder, aber Steppen und Tundra ohne Ende. Die schwäbische Alb war kahl. Die Bachtäler lagen tiefer als heute, die Landschaft war rau. Und leer. Kaum ein Mensch. Gedehnte Zeit.
Das Lonetal liegt nordöstlich von Ulm. Ein Bach mäandert durch satte Wiesen, das Tal ist ummantelt vom Wald. Auf etlichen Kilometern ist das Lonetal nur Fußgängern und Radlern zugängig. Es geht von Höhle zu Höhle. Der Fundort des Löwenmenschen liegt nur wenige Kilometer entfernt in der Stadelhöhle am Hohlenstein. Über seine Entstehung müsste man zweimal berichten. Die erste Geschichte spielt in der uns unbekannten Eiszeit, die zweite ist ein kurioses Archäologendrama mit einem Helden, der 1969 im Magazin des Ulmer Museums fündig wurde. Aus rund 200 Einzelteilen, die sich im Nachlass eines früheren Ausgräbers befanden, puzzelte er dieses wohl berühmteste eiszeitliche Kunstwerk zusammen. Der Löwenmensch war 30 Jahre zuvor vermutlich dem Pickel eines Ausgräbers zum Opfer gefallen. Die Eiszeitkunst ist ein Glücksfall für den örtlichen Tourismus. Schautafeln an den Höhlen klären über die Vorgeschichte und die Funde auf.
Selbst in Blaubeuren, wo eigentlich Höhlentaucher die Attraktion sind und sich alle Welt um den Blautopf schart, hat die Eiszeitkunst Einzug gehalten. Anlaufstelle ist das Urgeschichtliche Museum. Zwar sind die originalen Höhlenfunde auf verschiedene Museen verteilt (Ulm, Stuttgart, Tübingen), aber Replikate sind allgegenwärtig. Aus dem Geißenklösterle, so sagt man uns, stamme die zauberhafte Flöte aus Schwanenknochen. Eine Museumsmitarbeiterin spielt auf einer nachgearbeiteten Flöte eingängige Melodien vor. Wir machen uns auf, hinüber ins Achtal zu der markanten Felsengruppe, die sich Geißenklösterle nennt. Man muss etwas klettern, um die Höhlen und den Abriss des Felsenkessels zu erreichen. Romantisch diese Szenerie. Wurde hier vielleicht die Musik erfunden? Glauben kann man alles.
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