WER MÖCHTE SCHON DEN LEBENSRAUM DER KLEINEN ZAUNEIDECHSE EINEM KOMMUNISTEN OPFERN? BERLIN SICHER NICHT: Lenin in 120 Einzelteilen
ANJA MAIER
Berlin ist eine seltsame Stadt. An einem graudurchwirkten Januartag kann man hier Flashs jeder Sorte haben. Aktuell zum Beispiel versinkt unsere Hauptstadt im Nahverkehrschaos. Die S-Bahn-Verwaltung hat beschlossen, dreieinhalb Monate lang die komplette Innenstadtroute zu unterbrechen.
Wozu abschnittweise bauen, wird man sich gesagt haben, der Spaß ist doch gleich noch mal so groß, wenn wir die komplette City sperren. So werden unsere Fahrgäste flexibilisiert; sie lernen unbekannte Strecken kennen und kommen einander in den überfüllten Waggons auch näher.
Und genau so ist es. In die Kurzzüge, die die S-Bahn auf der Umfahrungsstrecke (du lieber Himmel, jetzt übernehme ich schon deren Wortschatz!) gnädigerweise einsetzt, wird man nun hineingepresst. Umfallen kann man nicht, es kann sehr kuschelig sein, an einen fleckigen Bierbauch gelehnt zu werden.
Irgendwann ist man angekommen. Man kämpft sich zur Tür, kriecht erschöpft aus dem Bahnhof und sieht einen sagenhaften Sonnenaufgang am Fuße des Fernsehturms. Na ja, und dann kann man Berlin eigentlich nicht mehr böse sein.
Außer man heißt Wladimir Iljitsch Lenin. Der russische Revolutionär hatte in Ostberlin nicht nur einen nach ihm benannten Platz. Darauf stand auch ein 19 Meter hohes Denkmal. Die Rechte zur Faust geballt, die Linke an den Mantelkragen gelegt, starrte Genosse Lenin ab 1970 Richtung Fernsehturm.
1991 aber musste er weg. Die braven Stadtverordneten ließen Lenin nicht nur abräumen, sie strichen auch die Statue von der Denkmalliste und ließen sie in 120 Teilen an einem geheimen Ort verbuddeln. Das Ganze hatte was von Teufelsaustreibung.
Nun, ein Vierteljahrhundert später, möchte man den Kopf des Denkmals in einer Ausstellung präsentieren. Der Kopf ist nur 1,70 Meter groß, das geht noch, wird man sich gesagt haben. Nicht dass 19 Meter roter Granit Menschen in eine weltanschauliche Abhängigkeit treiben könnten.
Aber leider muss Lenins Kopf vorerst bleiben, wo er ist. Und das ist eben auch so eine Berliner Geschichte. An jenem geheimen Verbuddelungsort nämlich lebt mittlerweile die Zauneidechse. Sie fühlt sich pudelwohl in der Nähe des Bolschewisten. Damit Lenins Kopf wieder ans Tageslicht darf, müsste sie fachmännisch vertrieben werden. Vergrämen nennt man das.
Donnerstag René Hamann Unter Schmerzen Freitag Meike Laaff Nullen und Einsen Montag Cigdem Akyol Down Dienstag Deniz Yücel Besser Mittwoch Martin Reichert Erwachsen
Aber wer will das schon? Wer möchte den Lebensraum einer kleinen Echse einem Kommunisten opfern, der ohnehin schon in 120 Teile zerlegt ist? Berlin sicher nicht.
Berlin kann in solchen Fragen sehr genau sein. Diese Woche bringen die Grünen und die Piraten in das zuständige Bezirksparlament einen Antrag ein: Lenin ausbuddeln nicht vor Oktober! Und falls sie damit nicht durchdringen: Wenn Lenin ausbuddeln, dann nur per Hand! Das wird sehr lustig. Von so einem Dutzend Tiefbauern mit schweren Schaufeln würde sich die kleine Zauneidechse nicht behelligt fühlen? Aber mal sehen, möglicherweise erreichen die Arbeiter nicht mal ihren Einsatzort. Schließlich fährt in Berlin kaum noch eine Bahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen