DER HORROR DER MITTE-ELTERN VOR DEM WEDDING: Die gute Schule
NEUE WERTE
Letztens, es war noch vor der unseligen Wahl, besuchte ich eine Diskussionsveranstaltung in der guten Schule. Das heißt in jener Schule, die gut zu finden in unserem Kiez eine Selbstverständlichkeit ist. Man hat sich beim morgendlichen Austausch vor der Kita, beim Expertengespräch vor der Schultür geeinigt: Das ist eine gute Schule.
21 Jahre nach der Wende sind die Straßen um die gute Schule herum von in jüngerer Zeit zugezogenen, westdeutschen Immigranten geprägt, die sich die Viertel nördlich und südlich der Invalidenstraße als Schauplatz ihres irgendwie lockeren, aber nicht zu bunten Familienlebens auserkoren haben, das in Eigentumswohnungen stattfindet, für die man auch schon mal einen Innenarchitekten engagiert. Die Zuwanderer möchten ihre Kinder in die gute Schule schicken. Es sind ihrer aber zu viele.
Im Kiez ist ein Gebärwunder ausgebrochen, das Sarrazins Horrorszenarien Lügen straft. Bei uns werden jeden Monat dutzendfach neue Sprösslinge gesund ernährter und hyperintelligenter Teutonen geboren. In diesem Jahr wurden 40 Kinder per Losverfahren in die gute Schule aufgenommen. 70 Kinder mussten mit anderen Schulen vorliebnehmen. Die Lage wird sich zuspitzen, weil im Kiez drei größere Wohnanlagen im Bau sind. Deswegen hat der Förderverein der guten Schule geladen, um zu sondieren, ob es nicht Möglichkeiten gibt, die Kapazitäten derselben zu erweitern. Das ist per se keine schlechte Idee, weil dann ein paar mehr Kinder aus der Nachbarschaft in die gute Schule gehen könnten.
Das sind ihre Wähler
Eingeladen sind ein Schulrat aus dem Bezirk, die für Schulangelegenheiten zuständige Stadträtin (Linke), aber auch die Rektorin einer Schule in der Nachbarschaft aus dem Wedding. Eine Grünen-Politikerin, die man von den Wahlplakaten kennt, ist auch da. Sie sitzt im Auditorium, macht sich Notizen und womöglich Gedanken darüber, wer eigentlich ihre Wähler sind.
Die Stadträtin verweist auf den Schulentwicklungsplan des Senats, auf den man keinen Einfluss habe (was später vom Senat dementiert wird). Außerdem sei der Schulgesamtbestand im Bezirk nicht zu klein, sondern zu groß. Die Schulplätze seien nur schlecht verteilt. Die Stadträtin macht keine so richtig gute Figur. Trotzdem wird klar, dass der Bezirk hier nicht mal eben vier erste Klassen aus dem Boden stampfen kann. Wer rechnen kann, versteht auch, dass eine moderate Erweiterung der guten Schule, selbst wenn sie finanzierbar wäre, das Problem der vielen Kinder im nördlichen Alt-Mitte nicht lösen würde. Seitens der Verantwortlichen vom Bezirk wird daher prognostiziert, das selbst die jetzt noch so unbeliebten Schulen auf Weddinger Seite schon bald an ihre Kapazitätsgrenzen kommen werden.
Sie zahlt Grundsteuer
So schaut’s aus, aber bitte, wir sind in Mitte, und unser Motto ist: Fuck the facts, wenn’s um mich geht! Es sei unerträglich, wie sie hier um den heißen Brei herumrede, macht also gleich eine Mutter die Stadträtin an. Ihre Nachbarin, eine Eigentumswohnungsbesitzerin, stellt die Frage, wie das alles überhaupt sein könne? Sie zahle schließlich Grundsteuer! Ein flusig Aussehender, Marke Grafikdesigner, sekundiert: Die gute Schule sei ein gutes Produkt. Das müsse belohnt werden, der Bezirk müsse hier investieren, die anderen hätten eben Pech gehabt, wenn sie keine guten Produkte anböten. Großer Applaus.
Sie merken schon, ein sozialkritisches, postdramatisches Stück im HAU bringt weniger Aufklärung über die gesellschaftlichen Verhältnisse als ein Informationsabend an einer guten Schule. Den entscheidenden Auftritt in dem dreistündigen Drama hat der Schulrat, ein trockener preußischer Beamter alter Schule. Er tritt als Repräsentant der die Partikularinteressen transzendierenden Vernunft auf und erzählt, wie ein türkischer Vater mit der Bitte zu ihm kommt, seinen Sohn an eine andere Schule zu versetzen. Der Schulrat, kein guter Schauspieler, imitiert den Akzent und die nicht ganz korrekte Grammatik des Mannes, was für Empörung im Saal sorgt: Aber hallo, wir sind doch keine Rassisten hier!
Hier die Geschichte: Der Schulrat fragt den Mann, wieso sein Sohn an die andere Schule gehen solle. Weil es eine gute Schule sei, antwortet der Vater. Woher er das wisse, fragt der Schulrat. Das habe er eben gehört, sagt der Mann.
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