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Wie es sich gehört

GRILLE II Ist es noch Gewohnheit oder ist es schon Wahnsinn? Menschliches Verhalten findet statt, ist aber nicht immer sinnvoll

VON MARTIN REICHERT

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir wissen das spätestens, seitdem der Verhaltensforscher Konrad Lorenz herausgefunden hatte, dass seiner Gans Martina Verhaltensweisen, die sie in Momenten der Bedrohung an den Tag legte, zur Gewohnheit wurden. Aber hilft einem das nun wirklich weiter, wenn man auch nur ansatzweise verstehen will, warum man mitunter seltsame Gewohnheiten mit sich spazieren führt?

Meine tägliche Fahrt zur Arbeit folgt zum Beispiel einem zwar stets verlässlichen, aber auch unsinnigem Ablauf: Mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand betrete ich einen Berliner Doppeldeckerbus und erklimme die Stufen in Richtung Oberdeck – meinen Sitzplatz habe ich dabei bereits fest im Blick, denn es ist MEIN Sitzplatz. Es ist der Sitz gleich rechts nach der Treppe. Wenn ich das Areal erreicht habe und mich gerade glücklich setzen möchte, fährt der Bus an und ich werde gewaltsam in den Sitz gedrückt, wobei sich einige Kaffeespritzer auf den Fußboden ergießen. Das ist jeden Morgen gleich, statistisch gesehen müsste mittlerweile jeder Berliner Doppeldecker-Bus, der auf der Linie M 29 eingesetzt wird, über spezifische Kaffeefleckenverkrustungen an besagter Stelle verfügen.

Dies nun aber tatsächlich zu überprüfen brächte mich womöglich in die Nähe einer Zwangsstörung – aber die Grenzen zwischen Gewohnheit und Zwangsstörung scheinen fließend zu sein. Es fühlt sich jedenfalls nicht gut an, wenn bereits jemand anderes auf dem Platz sitzt. Gar nicht gut.

Aber wie konnte es nur dazu kommen? Der Lorenz’schen Gans Martina zufolge muss ich irgendwann in Panik und mit Pappbecher auf diesem Platz gelandet sein. Und so wurde ich dann zu einem Hornochsen.

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