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18 Sekunden im Dezember

Die längste Raubserie der deutschen Kriminalgeschichte endete nach 15 Jahren mitten im Weihnachtstrubel. Im Zentrum von Karlsruhe stellten vor zehn Monaten zwei junge Polizisten die sogenannten Gentlemen-Räuber, ein Ehepaar aus Tschechien. Der Bankräuber eröffnete sofort das Feuer und starb, von Polizeikugeln getroffen. Seine Frau beging Selbstmord. Die beiden Polizisten kamen gerade noch mit dem Leben davon. Mit der Kontext:Wochenzeitung sprachen sie über das furchtbare Erlebnis. Über 18 lange Sekunden und einen Schutzengel

von Meinrad Heck

Sie würden wiederkommen. Kein Zweifel. Sie waren immer wiedergekommen. 15 Jahre lang seit ihrem ersten Überfall am 13. April 1995. Zuerst immer zwei Männer, in den letzten Jahren nur noch ein Mann und eine Frau. Immer dieselben drei Gesichter. 20 Banken hatten sie in den folgenden 15 Jahren in Nordbaden und der Südpfalz überfallen und ausgeraubt, manche davon mehrmals. Sie hatten mehr als zwei Millionen Euro erbeutet und mit ihren Waffen Dutzende von Bankangestellten und Kunden in Todesangst versetzt – eine der spektakulärsten Raubserien der deutschen Kriminalgeschichte.

Meist waren sie kurz vor Schalterschluss in die Bank marschiert, hatten in Einzelfällen mehr als 100.000 Euro in ihre Taschen gestopft und sich von einem Angestellten oder einem Kunden dessen Autoschlüssel geben lassen. Dann waren sie davongefahren, hatten den Wagen ein paar Straßen weiter ordentlich geparkt und waren spurlos verschwunden.

Einmal hatten sie die Autoschlüssel per Post zurückgeschickt an die Bank und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Solche Details waren irgendwie in die Öffentlichkeit gesickert, und natürlich war den Medien eine hübsche Schlagzeile für diese vermeintlich so höflichen Ganoven eingefallen: Gentlemen-Räuber wurden sie fortan genannt. Für die Polizei blieben sie in all den Jahren das, was sie waren: bewaffnete Verbrecher.

Es hatte unzählige Fotos von Überwachungskameras gegeben. Die Räuber hatten sich meist mit Brillen, Perücken und Mützen getarnt. Sie standen ganz oben auf den Fahndungslisten von Landes- und Bundeskriminalamt. Aber keine noch so detaillierte Beschreibung und keine 50.000 Euro Belohnung hatten auch nur den Hauch einer Spur ergeben. Niemand kannte diese Gesichter. Wo war die Stecknadel im Heuhaufen? Und wo war der Heuhaufen? Wo lebten die Bankräuber? In Baden, in der Pfalz, in Deutschland oder irgendwo im Ausland?

Natürlich hatten sich Dutzende von Fahndern 15 Jahre lang an ihre Fersen geheftet. Die Beamten hatten Profile erstellt und von Fall zu Fall hochgerechnet, wie lange das jeweils geraubte Geld wohl reichen würde. War die Beute sechsstellig, lag zwischen den Überfällen ein ganzes Jahr, war's weniger, waren die Abstände kürzer. Die Kripo hatte Fotomaterial ausgewertet, mit allen möglichen Tricks diese Perücken, Brillen oder Mützen auf den Überwachungsbildern wegretuschiert und neue Frisuren hingezaubert. Sie hatte versucht, die Verbrecher zu demaskieren, in der Hoffnung, jemand möge sie erkennen. Anfang Dezember 2010 waren sie mit einem neuen Fahndungsbild an die Öffentlichkeit gegangen.

Der letzte Überfall war damals gerade fünf Monate her. Die Beute hatte nicht mal 50.000 Euro betragen. Irgendetwas lag in der Luft. Kein Zweifel. Es würde nicht mehr lange dauern. Das Räuberpaar würde bald wieder in eine Bank stürmen, wie immer irgendwo zwischen Mannheim, Karlsruhe oder der Pfalz, wo Hunderttausende von Einwohnern leben und kein Mensch ein paar hundert Bankfilialen würde überwachen können.

Und sie kamen wieder. Wenige Tage nach der neuen Fahndungsmeldung. Der Mann und die Frau. Mitten in eine belebte Großstadt und mitten in den vorweihnachtlichen Trubel. Beide mit einer scharfen Waffe. Einer tschechischen Luger, einer polnischen Tokarew und zwei geladenen Reservemagazinen griffbereit im Gürtel.

Es ist Freitag, der 10. Dezember 2010, 15.59 Uhr und 57 Sekunden. In drei Sekunden soll die Volksbank am Karlsruher Karlstor schließen. Die beiden Räuber huschen noch durch die Tür. Überwachungskamera Nummer vier schießt ein erstes Bild. Sieben Minuten später, mit mehr als 100.000 Euro Beute in der Tasche, verlassen die beiden Bankräuber die Filiale. Und der Mann wird tatsächlich seine Waffe zücken und auf die zwei jungen Polizisten Anja Friedel und Bernd Schola (Namen von der Redaktion geändert) feuern, die den beiden in die Quere kommen.

Eigentlich ein ruhiger Vorweihnachtstag

„Nicht viel los heute“, sagt Bernd Schola zu seinem Gast hinten im Streifenwagen. Da sitzt ein junger Hospitant der Bereitschaftspolizei. Er soll Erfahrung sammeln. Zuschauen, zuhören, in den Polizeialltag hineinriechen. „Na ja, mehr haben wir heute wohl nicht zu bieten.“ Dieser Freitag scheint ein ruhiger Vorweihnachtstag zu werden. Bevor sie am Nachmittag losgefahren waren, hatten Anja Friedel und Bernd Schola noch im Polizeipräsidium vorbeigeschaut. Kollegen hatten dort für die interne Zeitung ein paar Zeilen geschrieben, wie die beiden Wochen zuvor zufällig einen Rauschgiftdealer geschnappt hatten, weil ihnen bei einer Kontrolle dieser süßliche Haschischduft in die Nase gestiegen war. Sie hatten den richtigen Riecher gehabt. Schöne Geschichte. Die beiden sollten nur mal kurz drüberlesen.

„Stimmen die Fakten?“ – „Ja.“ – „Also gut.“ Schnell eine Tasse Kaffee. Die Chefin schaut noch kurz vorbei. „Schönen Dienst noch und schöne Weihnachten, falls wir uns vorher nicht mehr sehen“, wünscht die Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke den beiden. Sie fahren wieder los mit ihrem Hospitanten auf dem Rücksitz. Anja Friedel und Bernd Schola sind 28 Jahre jung, er ist seit neun Jahren bei der Polizei, sie seit sieben.

Sie haben die übliche Ausbildung hinter sich. Auch das Training mit der Waffe auf dem Schießstand. Manchmal unter künstlich produziertem Stress. Viel Lärm, krachend laute Musik, Rauch und dann noch die Zielscheibe treffen. Der Puls geht vielleicht schneller. Aber der letzte, der wirklich allerletzte und entscheidende Schritt lässt sich nicht üben. Die Wirklichkeit. Auch nicht eine Situation, die hoffentlich nicht, aber vielleicht doch irgendwann einmal kommt. Was wäre, fragt sich Bernd Schola in jenen Momenten seiner Ausbildung nicht nur einmal, wenn er nicht auf eine Scheibe, sondern auf einen Menschen schießen müsste?

Jemanden im Dienst töten? Dann bin ich ein Wrack

Es gibt Vorschriften dafür. Sie sind bis ins letzte Komma juristisch wasserdicht und glasklar formuliert. Ja, sagt sich der junge Beamte, er würde schießen, wenn es um sein Leben oder um das Leben anderer ginge. Und wenn er feuern, treffen und vielleicht jemanden töten würde? Dann würde er hinterher vermutlich ein Wrack sein, denkt er sich.

Manchmal gehen merkwürdige Gedanken durch den Kopf. „Du“, sagt Anja zehn Tage vor jenem Freitag im Streifenwagen zu ihrem Kollegen, „mir fange die Gentlemen-Räuber.“ – „Ja, ja, klar, machen wir“, grinst Bernd Schola zurück. Daran war nichts Besonderes, sagt sie später in vielen Gesprächen mit der Kontext:Wochenzeitung. Da war kein tieferer Sinn, das war keine Eingebung und keine Vorahnung. Es war einfach nichts von Bedeutung. Nur für ein paar Sekunden so ein blitzartiger Gedanke, der kam, wieder ging und spurlos verschwand.

Der sogenannte stille Alarm aus der Volksbank am Karlstor geht an diesem Vorweihnachts-Freitag wenige Sekunden nach 16 Uhr im Führungs- und Lagezentrum des Polizeipräsidiums Karlsruhe ein. Das kann viel bedeuten. Noch weiß keiner, was gerade passiert oder auch nicht passiert. Es könnte ein Fehlalarm sein, vielleicht auch ein Kurzschluss beim Schließen der Tür, vielleicht ein Bankangestellter, der versehentlich den falschen Knopf drückt, was zwar außerordentlich unwahrscheinlich wäre, aber mal passieren kann, und es könnte tatsächlich ein Überfall sein. Die Beamten gehen immer vom Ernstfall aus.

Anja Friedel und Bernd Schola sind mit ihrem Hospitanten im Auto wenige Straßenzüge entfernt, als sie die Alarmmeldung erreicht. Sie sind um 16.04 Uhr vor Ort. So still wie der Alarm war, so still und leise fahren sie schleunigst an den Punkt, von dem aus sie die Bank im Blick haben, ohne gesehen zu werden. Kein Blaulicht, kein Martinshorn, mögliche Bankräuber im Gebäude mit Kunden und Angestellten nicht aufscheuchen, um Himmels willen keine Geiselnahme provozieren. Sehr schnell sein, aber still bleiben und so gut wie unsichtbar. Erst mal nur beobachten. Was ist dort los in dieser Bank?

Die beiden jungen Beamten kennen fast jeden Winkel, jede Gasse in ihrem Revier. Am Karlstor schneidet die vierspurige Kriegsstraße die Stadt in zwei Hälften. Es ist Feierabend. Rushhour am Freitagnachmittag. Immer mehr Verkehr. Am Karlstor gibt es einen Italiener, viele Geschäfte, eine Musikschule, mehrstöckige Bürogebäude, den Hochsicherheitstrakt des Bundesgerichtshofs. Es gibt Fußgängerampeln, an denen sich die Menschen stauen, eine Straßenbahnhaltestelle. Dutzende von Passanten laufen kreuz und quer, fahren oder radeln zum Vorweihnachts-Shopping in die Stadt. Die Dämmerung kommt, die Weihnachtsbeleuchtung glitzert. Und es gibt an dieser einen Ampel diese eine Bank. Der Puls der beiden Beamten mag vielleicht schneller gehen, aber noch rast er nicht.

„Da kommen Personen raus, teilweise auch schnell“, funkt Bernd Schola. Es ist exakt 16.05 Uhr und 15 Sekunden, als Kamera Nummer vier in der Bank diese Szene einfriert. Zuerst geht der unbekannte Mann, dunkle Haare, dicke helle Jacke, dunkle Hose, aus der Bank, dann die Frau, dunkle Mütze, dunkle Jacke, große schwarze Tasche, Jeans und hohe Stiefel. Noch gibt es keine Bestätigung, dass es sich wirklich um einen Banküberfall handelt. Aber Anja Friedel stutzt. Sieht aus, als tragen die beiden Perücken, sagt sie sich, und wieder kommt dieser Blitzgedanke: Gentlemen?

„Die kontrollieren wir jetzt mal“

Die beiden Unbekannten gehen über die Ampel in Richtung Bundesgerichtshof. Die Frau macht ein paar schnelle Schritte, läuft ein paar Meter voraus, sie wirkt gehetzt, wird wieder langsamer, wartet auf den unbekannten Mann. Beide überholen einen Passanten, lassen ihn ein paar Meter hinter sich. „Zwei Personen laufen relativ zügig weg“, meldet Bernd Schola über Funk, „die kontrollieren wir jetzt mal.“ Es gibt noch keine Informationen aus der Bank. Er und seine Kollegin wissen immer noch nicht, ob sie Bankräuber oder vielleicht auch harmlose Menschen vor sich haben. Die beiden jungen Beamten sind nur sehr, sehr misstrauisch geworden. Sie fahren ein paar Meter bis zum Bordstein nahe am Zaun des Bundesgerichtshofes, bis sie auf gleicher Höhe mit dem unbekannten Paar sind, steigen aus und gehen auf die beiden zu. Da zieht der unbekannte Mann seine Pistole aus dem Gürtel.

Es mag eine Sekunde oder auch nur Bruchteile später gewesen sein, als auch Bernd Schola seine Pistole zieht. „Schmeiß die Waffe weg“, brüllt er den Mann an. Dann gibt es nur noch dieses winzige schwarze Loch, das auf ihn gerichtet ist, und diesen krummen Zeigefinger des Unbekannten am Abzug. Was jetzt kommt, wird 18 Sekunden dauern. So lange braucht Otto Normalbürger vielleicht, bis er sein Auto rückwärts in eine Parklücke fährt oder bis ein Nachrichtensprecher im Fernsehen fünf Bundesliga-Ergebnisse aufsagt. In 18 Sekunden liest ein Mensch vielleicht die paar Zeilen in diesem Absatz. 18 Sekunden. Das ist die Dimension. Mehr Zeit wird nicht bleiben.

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