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VIRTUELLE REISE ZU EINEM KLEINEN KARIBISCHEN INSELSTAATHaiti, das Newsgame

Globetrotter

ELISE GRATON

Dieter nervt. Ständig müllt er meinen Posteingang mit Empfehlungen für neueste Apps und Computerspiele zu. Weil ich mir langsam Sorgen mache, er könne jegliche Verbindung zur Realität verlieren, schlage ich ihm einen Winterspaziergang vor. „In die Kälte?“, fragt er stöhnend. Und prompt landet ein weiterer Link in meiner Inbox: „Aber vielleicht begeistert sich Madame ja für eine virtuelle Reise ins warme Haiti?“

Dieter kennt Haiti? Gut möglich, dass der kleine karibische Inselstaat spätestens seit Januar 2010 auch ihm ein Begriff ist: Die Nachricht des gewaltigen Erdbebens, das Hunderttausenden das Leben kostete und das Land in Schutt und Asche verwandelte, ging um die Welt und löste eine internationale Welle der Solidarität aus. Nun, fünf Jahre später, was ist eigentlich aus Haiti geworden? Ich klicke auf den Link. Und bin überrascht. Genau dieser Frage geht die Reise nach, die im letzten Jahr leibhaftig von den französischen Journalisten Jean Abbiateci und Pierre Morel unternommen wurde. Unterstützt durch den Game-Designer Florent Maurin ist aus dem Material eine multimediale Erzählung entstanden. Das Projekt „ReConstruire Haïti“ (Wiederaufbau Haiti) vermischt die traditionelle Reportage aus Text, Interviews und Fotos mit interaktiven Spielelementen. Mit diesem (laut Dieter) relativ neuen, Newsgame genannten Format sollen dem Internetnutzer komplexe Inhalte auf spielerische Weise nahegebracht werden.

Okay, die Pixelreise kann beginnen. Los geht’s mit einer Frage: „Werden Sie beim Wiederaufbau Haitis die richtigen Entscheidungen treffen?“ Gleich zu Anfang wird daran erinnert, dass Haiti damals Spenden über zehn Milliarden Dollar zugesagt wurden. Welche Baustelle wäre meine Priorität: die Unterbringung der Obdachlosen, eine Gesundheitsversorgung für alle oder bessere öffentliche Schulen? Egal, was ich anklicke. Immer erscheint der gleiche Kommentar : Die Milliarden haben zu 91 Prozent den Einsatz der Spenderländer finanziert. Ob ich einen Plan B hätte? Lieber die zerstörten Gebäude wieder aufbauen oder den Zugang zu Trinkwasser verbessern? Auch da herrscht Ernüchterung: Weit mehr ausländischen als lokalen Unternehmen wurden Aufträge zugeteilt. Alles klar: Haiti wurde nicht geholfen, im Gegenteil. Der Verwaltungsapparat internationaler Hilfsdienste hat die Milliarden abgegriffen. Die Lage ist komplizierter denn je.

Nachdem der Status quo etabliert wurde, fängt das „Spiel“ aber erst richtig an. Innerhalb von sechs Kapiteln wird Haitis Gegenwart im Detail analysiert. Am Ende jedes Kapitels schlüpft man in eine andere Entscheidungsrolle. Im ersten Kapitel „Wieder aufbauen, aber besser“ bin ich Bürgermeisterin der Hauptstadt Port-au-Prince, in „Staat ohne Staat“ leite ich eine große NGO – nachdem ich am Beispiel der Feuerwehr ausführlich über die Untätigkeit des Staates und das Auf-sich-Gestellt-Sein der HaitianerInnen aufgeklärt wurde.

In diesem Moment fällt mir der kürzlich nach Frankreich ausgewanderte haitianische Dichter René Depestre ein, der Radiosender France Inter erzählte, dass Haiti es seit seiner Gründung 1804 nie geschafft habe, zu einem Nationalstaat zu werden. Mit dem Erdbeben sei die Zivilgesellschaft endgültig eingestürzt und der Wiederaufbau nur Kosmetik: Haiti brauche eine Neugründung! Die kulturelle Elite sei zwar äußerst dynamisch, allerdings nur in ihrem Bereich: der Fiktion. Ihr fehle jeglicher politischer Hebel. Während ich an seine Worte denke, stecke ich selbst mitten in der Fiktion: Am Ende der Reportage komme ich im Jahr 2020 an und erkenne die Konsequenzen meine virtuellen Entscheidungen. Durch ein Rollenspiel wurde mir ungeheure Klarheit über Haitis fragile Zukunft verschafft. Ein unheimliches Gefühl macht sich dabei in mir breit, wie damals als Kind vor der seltsamen US-Fernsehserie „The Twilight Zone“. So eine Art Angst, unmerklich in eine Parallelwelt abgedriftet zu sein.

■ Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin

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