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KAUM IST KLAUS WOWEREIT WEG, RÜCKT DIE PROVINZ GEFÄHRLICH NAHE AN DIE HAUPTSTADT HERAN. VERNÜNFTIG IST NUR NOCH DIE POLIZEIDenkt denn niemand an die Kinder?

MARTIN REICHERT

Achtung, dies ist ein den Alkoholkonsum verherrlichender Text, der erst ganz am Ende den Schutz der Jugend gewährleistet.

Also: Es war eine nächtliche Autobahnfahrt von Freiburg gen Stuttgart, nach einem Konzert. Der Fahrer, selbstverständlich nüchtern, hielt an einer Raststätte, weil wir rechtschaffen angeheiterten Mitfahrer noch ein Bier kaufen wollten, für die dröge Nachtfahrt durch Baden-Württemberg. Dann war das Entsetzen groß: Der Verkäufer teilte uns freundlich mit, dass der Verkauf von alkoholischen Getränken nach 22 Uhr in Baden-Württemberg nicht mehr gestattet sei. Wir konnten es nicht fassen. Sollten wir uns stattdessen Haschisch spritzen? Eine Bifi in Red Bull auflösen? Oder was?

Dem Jugendschutz sei dieses Gesetz gewidmet, erwiderte der schwäbelnde Tankstellenwart – aber was um Gottes Willen haben Kinder und Jugendliche nachts um elf auf einer gottverlassenen Tankstelle in Baden-Württemberg zu suchen? Um die Zeit sitzt man dort längst zu Hause und streamt oder raucht Crack oder beides.

Wir stellten fest, dass wir Berliner allesamt ein wenig den Kontakt zur Gesetzgebung in den deutschen Provinzen verloren hatten – in Rheinland-Pfalz, so wusste einer, steht sogar noch die Todesstrafe in der Verfassung. Die haben dort eine Verfassung? In Berlin, nein, in Berlin könnte so etwas nicht möglich sein. Todesstrafe, nächtliche Alkoholverbote. In Berlin nicht, niemals. I want to wake up in a City that never sleeps!

Diese Ereignisse trugen sich in einer Zeit zu, in der Klaus Wowereit noch Regierender Bürgermeister Berlins war und alle Bewohner der Stadt ständig ein Glas Sekt in der Hand hatten oder wenigstens eine Dose Bier aus dem Späti. Egal, ob die S-Bahn fuhr oder Schneechaos auf den Bürgersteigen herrschte, zu feiern gab es immer was; arm aber sexy und das am liebsten nachts.

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Doch nun ist er weg, der Wowereit. Und ein Herr, dessen Namen einem immer entfällt, regiert. Einer von der SPD und er regiert zusammen mit der CDU und einer von der letztgenannten Partei will nun den Alkoholausschank in „Imbissen, Spätverkaufsstellen und Tankstellen“ ab 22 Uhr verbieten. Weil es in Baden-Württemberg so gut läuft. Was einen daran erinnert, dass es in Berlin auch Politiker gibt und Baden-Württemberg gar nicht so weit weg ist, wie man denkt. Retten kann einen in diesem Fall nur die Berliner Polizei, die zuverlässig und nach Art einer typischen Berliner Verkäuferin („Ick bin hier ooch bloß anjestellt und kann ja nun nüscht dafür, dass die Ware beschädigt ist“) gleich verlauten lässt, dass solche Verbote aufgrund von Personalmangel sowieso nicht zu kontrollieren sind.

Die wirklich schlimmen Dinge aber verbietet niemand. Hat schon mal jemand neben ihnen in einem öffentlichen Verkehrsmittel gesessen und einen Döner verzehrt? Sodass der gesamt Fahrgastraum nach Gammelfleisch mit Röstaroma und rohen Zwiebeln und Knoblauch riecht? Das ist so ekelhaft, dass es die Implementierung mittelalterlicher Strafen in die Verfassung rechtfertigt. Denkt denn niemand an die Kinder?

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