: Ein Schutzengel
Mit einer wilden Schießerei endet am 10. Dezember 2010 in Karlsruhe die längste Raubserie der deutschen Kriminalgeschichte. Die zwei sogenannten Gentlemen-Räuber sterben – einer durch Polizeikugeln. Wie lebt man in dem Wissen, getötet zu haben? Wir sprachen mit den Polizisten: über 18 lange Sekunden und einen Schutzengel. Teil zwei
von Meinrad Heck
Was ist in diesem kleinen, schwarzen Loch, vorne an der Mündung der Waffe, mit der auf sie gezielt wird? Vielleicht so ein kleiner Dorn am Ende des Laufs, der ihnen sagen könnte, es sei eine Schreckschusspistole oder ein Spielzeug? Wie viel Zeit haben die 28 Jahre jungen Polizisten Bernd Schola und Anja Friedel (Namen geändert) nach dem Banküberfall in Karlsruhe an diesem Freitagabend in der Vorweihnachtszeit, um sich zu entscheiden, ob die Waffe in der Hand des unbekannten Mannes echt ist oder nicht? Zwei Sekunden, vielleicht nur eine oder noch weniger? Da ist kein Dorn an der Mündung. Und der Mann hört nicht auf den Befehl „Schmeiß die Waffe weg!“. Bernd Schola feuert einen Warnschuss in ein Blumenbeet neben den Mann, der vor ihm steht und immer noch auf ihn zielt.
Vielleicht eine Millisekunde früher oder auch später drückt der Unbekannte ab. Die Schüsse explodieren in den Ohren so gut wie zeitgleich, als ginge eine Bombe hoch. Der Polizeihospitant auf dem Rücksitz geht neben dem Wagen in Deckung und macht als unerfahrener Berufsanfänger exakt das Richtige, nämlich nichts.
Bernd Schola und Anja Friedel hören in den nächsten 18 Sekunden keinen Knall mehr. Nur noch Klicks oder dumpfe Geräusche von weit weit her. Das Gehirn blendet aus. Sie sehen nur noch diesen Zeigefinger des Mannes, der sich krümmt und krümmt, wieder und immer wieder. Und beide schießen zurück. Treffen ihn in die Beine, dann weiter oben. Und der Mann zuckt zusammen, bleibt stehen und hört und hört nicht auf zu schießen. Anja Friedel spürt ein Ziehen, dann einen Stich im rechten Oberschenkel. Sie ist getroffen, kriecht in die offene Beifahrertür ihres Streifenwagens mit dem Rufzeichen Günther 1/162, sie robbt über die Sitze auf die andere Seite in Deckung, greift zum Funkgerät und ruft „Schießerei, Schießerei“.
31 Schüsse in 18 Sekunden – wie ein Maschinengewehr
Die Kugeln aus der Pistole des Bankräubers bohren sich in die Tür einer Musikschule, sie schlagen in die Seite des Streifenwagens, sie treffen ein parkendes Auto, zertrümmern eine Scheibe an der nahen Straßenbahnhaltestelle. Dazwischen laufen und fahren immer panischere Menschen. Manche denken, da werde wohl ein Film gedreht, andere befürchten einen Terroranschlag auf den Bundesgerichtshof oder einen Amoklauf. Es klingt wie Maschinengewehrfeuer. 31 Schüsse in 18 Sekunden. An der nahen Ampel geben Autofahrer Gas und suchen das Weite. Die Bankräuberin hat ebenfalls ihre Waffe gezogen. Auch sie wird von Polizeikugeln getroffen, sackt auf den Boden, hebt ihre Waffe noch ein einziges Mal, steckt sie in den Mund und drückt ab. Der Mann wird von einem Schuss in die Brust getroffen, fällt, und dann erst hört er auf zu schießen. Minuten später stirbt auch er.
An der Straßenbahnhaltestelle steht zufällig ein Radioreporter. Er verständigt seine Redaktion. Andere twittern die Nachricht in die virtuelle Welt oder schreiben in die Kommentarspalten einer Onlinezeitung. Sekunden nach dem Schusswechsel klingeln die Telefone der Polizeipressestelle, und sie werden an diesem 10. Dezember 2010 nicht mehr aufhören zu klingeln. Bernd Schola schnappt sich das Funkgerät. Die Ruhe in seiner Stimme Minuten zuvor, als er sagte: „Wir kontrollieren die mal“, diese Ruhe und Routine sind wie weggeblasen.
Er hetzt von Wort zu Wort. „Schusswaffengebrauch, beide Personen angeschossen, Kollegin verletzt, brauchen unbedingt DRK.“ Und zehn Sekunden später: „Sind Gentlemen, würd’ ich sagen.“ Der Mann, die Frau, die Statur, die Perücken, die Vorgehensweise, die Waffen. Gewissheit wird es erst Tage später nach einer DNA-Analyse geben. Aber Bernd Schola und Anja Friedel haben recht. Es sind die sogenannten Gentlemen-Räuber, die seit 15 Jahren in Nordbaden und der Südpfalz Banken überfielen und nie gefasst werden konnten.
Eine zweite Streifenwagenbesatzung ist jetzt am Karlstor eingetroffen, kurz danach eine dritte. Und dann kommt da noch plötzlich, wie aus dem Nichts, ein langhaariger Kerl angerannt mit einer Waffe im Anschlag. Eine neue Bedrohung. Komplize? Gut oder böse? Wie viel Zeit bleibt für eine Entscheidung? Bernd Schola brüllt diesen Kerl im breitesten badischen Dialekt an: „Wer bisch'n du?“ Obwohl er die Antwort instinktiv schon kennt. Der Mann sieht zwar nicht aus wie ein Polizist, aber er bewegt sich wie einer. Und seine Pistole ist eindeutig eine Polizeiwaffe. „Kripo“, ruft er.
Ein Rauschgiftfahnder, der aussehen soll, als käme er aus der Szene. Einer, der gerade rein zufällig einen Drogeneinsatz am Karlstor gefahren hatte und zu Hilfe eilen wollte. Noch mal gut gegangen. Um Haaresbreite an der Katastrophe vorbei. Später werden Ermittler sagen, eine einzige falsche Reaktion in diesen Sekunden, in denen das Adrenalin durch die Adern schießt, nur ein winziger Fehler, und es hätte vielleicht noch einen Toten gegeben.
Es ist noch nicht zu Ende. Da ist noch ein Mann. Vielleicht zehn Meter weg von den beiden Toten. Jener Mann, den die Bankräuber bei ihrer hastigen Flucht aus der Bank überholt hatten, der hinter ihnen lief und sich auf den Boden warf, als die Knallerei begann, die Hände an den Ohren. Nach diesen 18 Sekunden wagt er, den Kopf zu heben, und er blickt in den Lauf einer Pistole. Er realisiert nicht, dass ein Polizist vor ihm kniet und ihn in Schach hält. Er sieht nur diese Mündung, und er erkennt hinter der Waffe, wie er später sagen wird, nur „eine Fratze“.
Wer ist dieser mysteriöse dritte Mann?
Zufall? Nur ein Passant? Ein Mittäter? Der mysteriöse dritte Mann der sogenannten Gentlemen-Räuber, nach dem heute noch gesucht wird? Einer, der vor der Bank Schmiere stand? Die beiden toten Bankräuber haben Pässe in ihren Taschen. In wenigen Augenblicken wird die Polizei wissen, wer sie waren, und dann wird die Ermittlungsmaschine zu laufen beginnen. Die Bankräuber kamen aus Tschechien, ein seit Jahren verheiratetes Ehepaar aus einem kleinen Nest südlich von Prag. Der Mann hatte Kontakte in den süddeutschen Raum. Südlich von Prag, so wird sich später erweisen, hatten sie ihre Raubzüge nach Deutschland gestartet. Nicht aus der Pfalz oder Baden oder überhaupt in Deutschland, nein, aus Tschechien. Und jetzt dieser dritte Mann daneben am Boden, ein paar Meter weg, der nur gebrochen Deutsch spricht, der fleht, er sei völlig unschuldig, habe mit der Sache nichts zu tun und habe Todesangst – wer verdammt noch mal ist dieser Mann?
Der Mann kann bitten und betteln, wie er will. Er wird vorläufig festgenommen. Ein Verdacht ist in diesen ersten Minuten nach dem Überfall einfach nicht wegzudiskutieren. Undenkbar, ihn in dieser Situation einfach laufen zu lassen. Aber die Polizisten ahnen nicht, was sie diesem Mann antun, ohne es zu wollen. Noch nicht. Erst eine Stunde später.
Der Mann ist tatsächlich völlig unschuldig. Sein Alibi stimmt. Es war Zufall. Er hatte nicht das Geringste mit den beiden Bankräubern zu tun. Es bleibt nicht der Hauch eines Verdachts. Was die Polizisten nicht wissen konnten, war, welche dramatische Vorgeschichte dieser Mann bereits erlebt hatte. Seine Familie war vor Jahren von dem tödlichen Amoklauf an einer Schule in Erfurt betroffen. Und er dachte an jenem Freitag in Karlsruhe, er sei wieder mitten drin in der Hölle beim Amoklauf eines Verrückten. Eine Pistole vor Augen, ein Polizist, den er trotz Uniform nicht als solchen, sondern als Amokläufer erkennt und nur als jene Fratze wahrnimmt.
Es wird noch viele Treffen mit diesem Mann geben. Das Kriseninterventionsteam will sich um ihn bemühen. Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke wird zu erklären versuchen, sie wird sich bei ihm entschuldigen. Es wird ihm nicht viel helfen. Erst als sie den traumatisierten Mann in ihrem Büro mit dem jungen Beamten zusammenbringt, der ihn mit seiner Pistole in Schach gehalten hatte, also jener angeblichen Fratze, beginnt sich die Situation ein wenig zu entspannen. Ein wenig. „Sie haben mir Todesangst eingejagt“, klagt der Mann. Und der Polizist versteht. Aber „ich habe in dieser Sekunde auch nicht gewusst, ob ich meine Kinder noch mal sehe“, sagt der Polizist. Es ist die Ohnmacht, die traumatisiert. Das Gefühl, hilflos und machtlos ausgeliefert zu sein. Nichts mehr tun zu können, keine Kontrolle zu haben. Wie dieser Passant, wie die Bankangestellten oder Kunden.
Anja Friedel wird vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht. Daniela Piche sitzt neben ihr. Die junge Frau ist eine Polizeikollegin, die an jenem Freitag den Schusswechsel gehört hatte. Sie war ein paar hundert Meter entfernt. In einem Geschäft auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk. Und sie weiß, dass sie da jetzt hinmuss. Sie beruhigt ein paar aufgeregte Menschen, die ihr entgegenrennen. Es sei doch bald Neujahr. Das werden wohl nur ein paar Silvesterböller gewesen sein. Sie ahnt, dass es nicht stimmt.
Daniela Piche gehört zum psychosozialen Betreuungsdienst der Karlsruher Polizei. Was auch immer ein paar hundert Meter weiter passiert ist, sie wird es erfahren und helfen können. Sie weiß, warum das wichtig ist. Sie war vor Jahren im Streifendienst nachts zu einem Einbruch in ein Bürohaus gerufen worden. Sie hatte den Einbrecher gestellt, den Mann bis in die obere Etage auf das Flachdach verfolgt und in Schach halten wollen, bis Verstärkung eintreffen würde. Der Einbrecher hatte sich umgedreht und war in die Tiefe gesprungen. Seitdem gibt es in ihrem Leben ein Geräusch, das ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.
Sie weiß, traumatische Erlebnisse werden zwangsläufig Teil der eigenen Biografie. Sie bleiben es, ob man will oder nicht. „Und genau das musst du lernen zu akzeptieren. Sie sind und bleiben ein Teil von dir.“ Anja Friedel sagt im Krankenwagen wieder und immer wieder: „Oh Gott, was hatten wir für einen Schutzengel!“ Ihre Schusswunde am Oberschenkel wird in der Klinik operiert und verheilt ohne Komplikationen. Die Kugel hatte knapp eine Arterie verfehlt. Eine Woche danach kann sie wieder nach Hause.
Bernd Schola weiß, dass er einen Menschen erschossen hat. Hatte er Kinder? Wer trauert um ihn?, fragt er sich. Warum hat er nicht aufgehört zu schießen? Dieses Schießen musste aufhören, mitten im Weihnachtstrubel am Karlstor mit all den Menschen. Vorwürfe? Selbstvorwürfe? Fehler gemacht? Vor Jahren in der Ausbildung hatte der junge Mann noch darüber nachgedacht, ob und wann er seine Waffe benützen würde, nämlich dann, wenn das Leben anderer oder sein eigenes in Gefahr wäre. Er hatte befürchtet, ein seelisches Wrack zu sein, wenn jemand dabei zu Tode kommt. Bernd Schola ist kein Wrack. Er weiß, dass er selbst nur um Haaresbreite davongekommen ist.
In der Landespolizeidirektion Karlsruhe gibt es ein Dezernat für Sonderfälle. Dessen Fahnder ermitteln grundsätzlich immer, wenn Polizeibeamte von der Schusswaffe Gebrauch machen. Sie zerlegen noch Freitagnacht diese 18 Sekunden in ihre Bruchteile. Sie rekonstruieren Schusswinkel, vernehmen Zeugen. Sie hören, dass diese Zeugen sagen, die Bankräuber hätten das Feuer eröffnet, die Polizei habe es erwidert. Sie versuchen herauszubekommen, wer wann wo stand und was getan hat. Und schon in den ersten Stunden war den Ermittlern „glasklar“, was an diesem Abend passiert war und warum. Der Warnschuss in das Blumenbeet, die schwer verletzte Polizistin. Der Selbstmord der Bankräuberin. Wozu die zwei geladenen Reservemagazine griffbereit am Gürtel des Bankräubers? Es war in diesen 18 Sekunden um alles oder nichts gegangen.
Es gibt keinen Zweifel, wird die Staatsanwaltschaft Monate später in ihrem Abschlussbericht schreiben. Dass und wie Anja Friedel und Bernd Schola geschossen haben, war nicht nur „gerechtfertigt“, sondern aus „Gründen der Notwehr auch geboten“.
Monate danach: Im Obergeschoss des Karlsruher Polizeipräsidiums trifft sich ein kleiner Kreis von Beamten mit den Vorgesetzten. Anja Friedel und Bernd Schola sind eingeladen, ihr Hospitant, dazu jene Streifenwagenbesatzungen, die ihnen damals zu Hilfe gekommen waren. Die Pressestelle ist dabei, Notärzte, Sanitäter, psychologische Betreuer und Vertreter Stuttgarter Ministerien. Erinnerungen an einen Tag im Dezember.
Ein kleiner Engel am Schlüsselbund G 1/162
„Nein“, sagt Polizeipräsidentin Hildegard Gerecke, „ich freue mich nicht, dass zwei Bankräuber tot sind. Ich freue mich nur, dass kein Unbeteiligter zu Schaden kam und meine beiden Kollegen noch leben und gesund sind.“ Die Pressestelle hat für dieses Treffen ein Nachrichtenstück jenes Tages zusammengebastelt. Ein paar Fotos, Zeitungsartikel, Schlagzeilen, mit denen manche Journalisten Hollywood gespielt hatten. Showdown am Abend, hieß es auf dem Boulevard, oder es kam die Story von Bonnie und Clyde. Die Pressestelle zeigt ein paar Einspieler von „Tagesschau“ und „heute-Journal“ jenes Abends. Vom Band laufen ein paar Fetzen aus den Funksprüchen. Nur diese zwei Worte von Anja Friedel: „Schießerei, Schießerei.“ Und danach sagt in dieser Runde keiner mehr ein Wort. Es war, erinnern sich Teilnehmer, einfach nur noch still.
Der Streifenwagen mit dem Rufzeichen Günther 1/162 ist repariert. Die Einschusslöcher sind geflickt, der Wagen ist in einem anderen Revier wieder im Einsatz. Anja Friedel liegt in den Monaten danach noch etwas am Herzen. Eines Morgens holen sich ahnungslose Beamte wie jeden Tag den Schlüssel von Günther 1/162. Natürlich kennen sie die Geschichte ihrer Kollegen und die des Autos. Und sie zucken zusammen. Am Schlüsselbund baumelt plötzlich ein kleiner Engel. Anja Friedel hatte ihn im Krankenhaus geschenkt bekommen und heimlich gebracht. „Ein Schutzengel“, sagt sie, „ein Schutzengel, wie wir ihn in diesem Auto hatten.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen