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Eine Übung in Gegenwärtigkeit

TAGEBUCH Naturhafter Schönheit beim Sein zuschauen: Der Schweizer Waldspaziergänger Felix Philipp Ingold führt mit seinem Opus „Leben & Werk“ die Entmächtigung des schreibenden Subjekts radikal weiter

VON EBERHARD GEISLER

Felix Philipp Ingold, geboren 1942 in Basel, blickt auf ein ungemein breites Werk zurück. Neben wissenschaftlichen Arbeiten – Ingold war Ordinarius für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen, und manch ein Kollege wäre auf die Zahl seiner akademischen Publikationen stolz – hat er Lyrik, Erzählungen und Romane veröffentlicht sowie eine lange Reihe von Übersetzungen aus dem Französischen und Russischen gefertigt. Als Herausgeber literarischer Texte war er nicht minder aktiv. Jetzt hat er sein tausendseitiges Tagebuch aus den Jahren 2008 bis 2013 vorgelegt.

Was Ingold mit diesem Opus anstrebt, ist eine Übung in Gegenwärtigkeit. Seine Poetik soll den heutigen Stand ästhetischer Konzeptionen repräsentieren. Sie ist daher durchdrungen von der Absage an teleologische Zielvorstellungen, wie sie für die traditionelle Metaphysik maßgeblich waren. Das Schreiben soll nicht länger von Linearität und Progressivität bestimmt sein. Um dies zu erreichen, unternimmt Ingold etwas Kühnes: Er geht in seinem Tagebuch zwölf Monate Tag für Tag durch, stellt dabei aber jeweils Ereignisse und Notizen aus fünf Jahren nebeneinander; zu ein und demselben Datum können also unterschiedliche, ganz widersprüchliche Dinge geschehen.

Während dieser fünf Jahre stirbt die hochbetagte Mutter des Autors; später im Jahr finden sich wieder Eintragungen, in denen sie noch lebt – die Chronologie ist außer Kraft gesetzt. Mit dieser kaleidoskopartigen Technik sucht Ingold unerwartete Kontrastbildungen und besondere Tiefenschärfe zu erreichen. Die Zeit steht still, und das die Philosophie lange beherrschende Denken eines Voranschreitens von einem Ausgangspunkt Alpha zu einem Endpunkt Omega ist ausgehebelt.

Derselbe Wille zu einer avancierten Poetik spricht aus der Art und Weise, auf die der Autor mit den ständig eingefügten Berichten eigener Träume umgeht. Diese ausführlichen Traumprotokolle haben sich radikal von den Vorstellungen der Psychoanalyse gelöst. Das Geträumte hat nichts mehr zu bedeuten, verweist nicht mehr auf psychische Problematiken des Individuums, bringt nichts Tieferliegendes mehr zum Ausdruck. Ingold kehrt sich auf eine die Leser zunächst vielleicht befremdende Weise von der Vorstellung einer Tiefe ab, die gegenüber der Oberfläche zu privilegieren wäre.

Gewonnene Erlebniszeit

Das Träumen verwendet zwar Versatzstücke aus dem Leben des Autors, hat aber keinen Sinn, ist selber der Sinn und schlicht als gewonnene Erlebniszeit zu begrüßen. Ebenso werden immer wieder Proben aus Ingolds lyrischer Produktion gegeben, die der Autor für dasjenige Genre hält, das er am besten beherrscht und mit dem er vielleicht der Nachwelt gegenübertreten möchte. Auch hier zieht er radikale Konsequenzen aus Positionen der Moderne. Für diese ist die auktoriale Intention bekanntlich im Schwinden begriffen, und Ingold treibt diese Entmächtigung des sprechenden Subjekts weiter, indem er seinen Versen keine Bedeutung mehr unterlegt, sondern die Leser nur noch dazu anregen will, in der Lektüre eigene Sinnmöglichkeiten zu entwickeln.

Zugleich begibt er sich gelegentlich in der Nähe von Ernst Jandl, macht die Sprache selbst zum eigentlichen Subjekt; er lässt sie sozusagen machen und arbeitet mit Gleichklang und Ähnlichkeiten von Wörtern. Ingold ist sich dabei bewusst, dass er als Lyriker nur für eine Minderheit schreibt. Ob seine Dichtung, an der das sinnsuchende Auge gleichsam abgleitet und die von sich aus keine mögliche Deutung mehr nahelegt, die Leser tatsächlich zu selbstständiger Sinnproduktion anzuregen vermag, ist zu bezweifeln. Texte ändern ihre Bedeutung in wechselnden Kontexten, aber sie behalten, wenn sie von Rang sind, auch einen bleibenden Kern.

Gegenwärtigkeit anzustreben heißt hier zugleich auch Geschichte hinter sich zu lassen. Ingold, der täglich einen ausgedehnten Waldspaziergang unternimmt, beschreibt darum immer auch das jeweilige Wetter und die dem Jahreszyklus unterworfene Natur. Er findet dann seine Genüge darin, „dieser ganz simplen, ganz naturhaften Schönheit für ein paar Augenblicke beim Sein zuzuschauen“, und beobachtet sehr genau. Wenn Literatur das Konkrete zu zeigen vermag und Anschaulichkeit erreicht, eignet ihr für ihn nahezu etwas Göttliches. Seine Anregungen holt er sich, wie er bekennt, längst nicht mehr aus akademischen Tagungen, sondern aus dem Wald. Schreiben heute schließt Reflexionen zur Gegenwart ein. Ingold will nicht nur mit seinem Denken in der Jetztzeit ankommen, sondern will diese auch thematisieren und kritisieren.

Er ist sich bewusst, dass die Postmoderne – die Jetztzeit – sich vom Gedanken ursprünglicher künstlerischer Schöpfung entfernt hat und eine wesentlich imitative Epoche ist, die das Arrangement statt des Entwurfs sucht und, eher als dass sie erschafft, Vorhandenes aufnimmt und neu miteinander verknüpft. Auch das Reale büßt seine traditionelle Stellung ein und räumt der Möglichkeitsform Platz ein. Realität ist kein Wert mehr an sich; ihr tritt das Mögliche – ganz ähnlich, wie es der Traum bewirkt – ebenbürtig zur Seite.

Dieser Schwund an Differenzierung ist zugleich aber auch der Makel der Jetztzeit. Ingold beklagt, dass heute das Prinzip der Gleichgültigkeit herrsche: Kultur und Alltag, Kunst und Unterhaltung erhalten immer mehr die gleiche Gültigkeit. Das Gespür für Höhenkammkultur ist auf dem Rückzug, und der Markt regiert, der nur noch Aufmerksamkeit für die laufende Saison zulässt. Ehedem konnte der Nachruhm der Werke über Jahrhunderte reifen; in der Gegenwart sind die Perspektiven radikal verkürzt, und der Augenblick ebnet alles Gefälle ein. Auch dass das zeitgenössische Design den Gegenständen bevorzugt Naturformen verleiht, Autos, Möbel und PC-Tastaturen wie etwas Teigig-Lebendiges gestaltet, hält der Autor für ein bedenkliches Phänomen. Er sieht darin eine Art von Infantilismus, der Kultur nicht mehr Kultur sein und sie als das Andere der Natur verkümmern lässt.

Zum Vergnüglichsten des Buches gehören die zahlreichen Lektüreberichte, die besonders meinungsfreudig sind. Ingold hat eine besondere Liebe zu verkannten, übersehenen Büchern, und was im allgemeinen Bewusstsein als kanonisch fest verankert gilt, greift er an. Marcel Proust holt er ebenso vom Podest wie Thomas Mann; dem Ersteren kreidet er „Schaumschlägerei“ an, dem Zweiten, im „Doktor Faustus“, „schöngeistige Phrasendrescherei“. Ein Nobelpreis erweist sich da leicht als Totengräber des Nachruhms. Auch Fernando Pessoa kommt schlecht weg; Ingold wirft ihm Denkschwäche und blasses Geschwafel vor.

Genie und Schwachsinn

Was derlei Invektiven zeigen, ist der Umstand, dass auch die Großen – und wer wird die Größe der Genannten ernsthaft bezweifeln? – in unbarmherziges Licht gestellt werden können. Eine Verbindung von Genialität und Schwachsinn entdeckt der Autor bei Nietzsche, Heidegger und Derrida. Aber auch uneingeschränkte Bewunderung findet sich hier, etwa für Karl Philipp Moritz, dessen „Anton Reiser“ den Rang der Schullektüre verdient hätte, für die Russin Marina Zwetajewa und vergessene Schriftsteller wie Marcel Schwob oder Eugen Gottlob Winkler.

An einer Stelle beklagt Ingold im Rückblick auf sein Leben, dass seine Interessen vielleicht zu weit gefächert waren und er wohl kein Werk hinterlasse, sondern ein Sammelsurium von Texten. Schicksal eines homme de lettre, auch wenn er, wie Ingold, als solcher noch so außerordentlich ist? Mag sein, dass es sich so verhält. Aber dieses Tagebuch ist ungemein anregend und macht Lust gleichermaßen auf Lektüre und Schreiben.

■ Felix Philipp Ingold: „Leben & Werk. Tagesberichte zur Jetztzeit“. Matthes & Seitz, Berlin 2014. 1.020 Seiten, 49,90 Euro

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