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Sehnsucht nach Monterey

Die Hildesheimer Theatergruppe Men in eMotion erzählt in ihrer Adaption des Scorsese-Films „Alice lebt hier nicht mehr“ von der Kraft, die es braucht, trotz aller Widrigkeiten des Lebens an die eigenen Träume zu glauben

Es ist nicht gerade gemütlich in der Eishalle in Hildesheim. Ein riesiger Raum, Wellblechwände, Betonboden. Ein gutes Dutzend gelber Coke-Kisten liegt verstreut herum. Wir befinden uns in den Sechzigern, Monterey, Kalifornien. Auftritt Alice (Cornelia Dörr), ein junges Ding bei seinem ersten Gig als Sängerin. Sie wiegt sich im Takt, lächelt, knickst und scheint erstaunt über die eigene Courage.

„Darf ich mich neben Sie setzen?“ Von der Seite nähert sich einer (Arnd Heuwinkel) und eine einzige Szene genügt, um zu erzählen, was die nächsten elf Jahre bringen werden. Knutschen, schwanger, Hochzeit, Baby und die Ankunft in familiärer Ödnis und ehelicher Gewalt, wo der Sonntagskuchen der Einzige ist, der einem noch zuhört. Doch plötzlich, mit dem Tod des Gatten, steht Alice vor der Aufgabe, für das Familieneinkommen zu sorgen. Sie erinnert sich an ihre Vergangenheit als Sängerin, und macht sich mit ihrem grundskeptischen Sohn – „Nee, Mum, ich mein’ nicht so Hobby-Sachen“ – auf den Weg nach Monterey, Kalifornien.

Martin Scorsese hat seinen Film „Alice lebt hier nicht mehr“ 1974 als ein utopisches Emanzipationsdrama konzipiert, in dem eine Frau sich auf den Weg macht, sich unabhängig von einem Mann selbst zu verwirklichen. Bei Regisseur Gero Vierhoff, mehr als 30 Jahre danach, erscheint die Roadmovie-Romantik des Films mit dem endlosen Highway bis zum westlichen Horizont nur noch als Lichtschlauch-gerahmtes Wandbild. Vierhoffs Figuren bewegen sich im quasi leeren Raum, reden, kämpfen, spielen miteinander und stehen doch meist allein, dem Publikum zugewandt, ausgestattet nur mit den Getränkekisten, die von Barhocker über Pferd bis Motelzimmer für alles herhalten. Als würden sie eine Geschichte von sich erzählen, anstatt bloß sie selbst zu sein. Immer neue Räume und Situationen entstehen, einmal stattet Arnd Heuwinkel eine ganze Bar mit männlichen Gästen aus.

Gero Vierhoff hat das schön und präzise choreografiert. Dass es nie künstlich wirkt, liegt an den großartigen Schauspielern, die in diesem unterkühlten Setting emotionale Brisanz erzeugen. Cornelia Dörrs Alice ist eine kindlich-naive, mal schüchterne und mal burschikose zierliche Person. Es ist berührend anzusehen, wie sie, zerriebenen zwischen den verschiedenen Zwängen – Geldverdienen, Kind, Männerbedürfnisse, Älterwerden – darum kämpft, einen würdigen Entwurf ihrer selbst zu verteidigen. Ausstatterin Sabine Kohlstedt kleidet sie in kühlen Siebziger Jahre-Chic; schön, wie Alice im Faltenrock beginnt, „was sexy“ ausprobiert und letztlich in Schlaghose und T-Shirt herumläuft.

Alice, die mittlerweile als Kellnerin in ‚Mel’s Bar‘ arbeitet, muss sich entscheiden. Sie träumt noch immer davon, eine große Sängerin im bislang unerreichten Monterey zu werden. Andererseits gibt es da David, den ersten halbwegs erträglichen Typen, den sie kennen gelernt hat, und der Sohn könnte dringend mal wieder ein wenig elternhäusliche Pflege gebrauchen. Bei Vierhoff geht das Licht aus, bevor Alice sich entschieden hat. Und das ist auch gut so, schließlich scheint die Problematik „Mann oder Karriere?“ anachronistisch. Seine Alice bleibt eine, die sich durchschlägt, nie die Hoffnung verliert und wohl mit den Widersprüchlichkeiten ihrer Situation alt werden muss. Das rückt sie uns näher.

„Alice lebt hier nicht mehr“ ist die sechste Produktion von „men in eMotion productions“, einem Produktionslabel, hinter dem sich eine Gruppe von großenteils Hildesheimer Theaterschaffenden verbirgt. Das ist auch der Grund, warum das Stück, das insgesamt an fünf Spielorten in Niedersachen und Hamburg zu sehen sein wird, hier Premiere hat. Die anderen Orte wurden alle persönlich angefragt, waren interessiert, doch Festgagen kann es keine geben, erzählt Schauspieler Arnd Heuwinkel. Das freie Theater bleibt ein hartes Brot. Irgendwie auch wieder wie bei Alice. LENE WAGNER

Vorstellungen: Eishalle, Domäne Marienburg, Hildesheim, 19./20. 11., 20 Uhr. LOT Brauschweig, 29. / 30. 1., 20 Uhr. Junges Theater Göttingen, 31. 1., 20 Uhr. Theaterwerkstatt Hannover, 1. / 2. 2, 19.30 Uhr. Kulturhaus 73, Hamburg, 18. /19. /20. 2., 20 Uhr

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