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FUSSBALL SPIELEN IM FREMDEN KEIZ UND FUSSBALL SCHAUEN IM EIGENENDie heiße neue Beerdigungs-Start-up-Szene von Wittenau

VON JENS UTHOFF

In Wittenau ist nicht viel los am frühen Freitagabend. Nicht, dass mich dieser Fakt sonderlich überrascht hätte, eher ist die Frage, was zur Hölle man zu Beginn des Wochenendes in Wittenau zu suchen hat. Der Sportbeutel, der an meiner Schulter hinunterbaumelt und der eigentlich ein Rucksack ist, gibt die Antwort: Mal wieder ist der Fußball schuld. Mein Team muss gegen die Wittenauer Concordia antreten.

An der Oranienburger Straße, die es im Berliner Nordwesten ein weiteres Mal gibt, latsche ich zunächst in die falsche Richtung. Jeder dritte Laden hier ist ein Bestattungsunternehmen. Wenn man also mal begraben werden will, ziehe man nach Wittenau – oder wie ist das zu verstehen? Vielleicht ist das aber auch nur die heiße neue Beerdigungs-Start-up-Szene, die sich dort scharenweise niederlässt. Grave it, digger!

Über das dann folgende Spiel schweigt man besser, wenn man keine fußballerischen Traumata wieder aufleben lassen will; es waren ein paar Tore zu viel, die uns die Wittenauer mit auf den Weg nach Kreuzberg gaben. Immerhin konnten wir, ungeachtet dieser Tatsache, nach dem Spiel schon wieder Witze machen, ob wir uns nicht als Auflaufkinder für das Champions League-Finale im Juni bewerben sollten – wo unser Ü32-Freizeitteam sich doch auf dem Platz gerade so pennälerhaft angestellt hatte.

Am Samstagmorgen verlaufe ich mich ein weiteres Mal – diesmal nicht im hohen Nordwesten, sondern im niederen Nordosten Pankows. Eigentlich will ich zu einer Wohnungsbesichtigung in die Chodowieckistraße (oder „Schodowitzki“, wie der Volksmund hier sagt), stattdessen laufe ich straight in die Arme von Ernst Thälmann. Das Thälmann-Denkmal am gleichnamigen Park an der Greifswalder Straße ist derzeit zu einem Readymade geworden, mit dem man fast ein Jahrhundert Stadtgeschichte erzählen könnte: Jemand hat der Skulptur einen Anhänger verpasst, auf dem in schillerndem Silber „F A N C Y“ zu lesen ist. Der Tag ist mir dann trotzdem zu grau, kalt und ungemütlich, als dass ich die Zeit nach der Wohnungsbesichtigung (Wohnung gut, aber irgendwie nicht mein Kiez) noch für einen Gang durch den Park – der ja im Ganzen auch irgendwie ein realsozialistisches Readymade ist – genutzt hätte.

Danach verlaufe ich mich mal wieder in einen Kreuzberger Plattenladen, wo es am frühen Nachmittag einigermaßen unfancy zugeht. Die neue Dylan haben sie nicht da, dafür erstehe ich Schallplatten von Ry Cooder und dem Sun Ra Arkestra. Deren Album – live in Montreux – wird zuhause laut gehört. Jazz, Jazz, Jazz.

Nach einem kurzen weiteren Fußball-Intermezzo – bei Werder gegen Bayern wachen wir in der Kneipe erst wieder richtig auf, als es eine hübsche Serie an Fouls und Rudelbildungen gibt – geht’s am Abend noch in den Monarch. Da kann man ja eigentlich immer hingehen – die Bar am Kotti scheint so eine Art Blankoscheck unter den Kneipen und Klubs zu sein.

So auch an diesem Abend. Es ist voll, altersmäßig sehr gemischt, es läuft gute Tanzmusik, zum Beispiel die Strokes, New Order oder The Rapture, die mich zum Mitwippen an der Theke animieren. „How deep is your love?“, fragen Letztere via Lautsprecherboxen. Sie tun das mit anderem Beat und etwas überzeugender als die Bee Gees oder in deren Folge Take That.

Die ganz deepe Liebe sollte ich nicht mehr finden an diesem Abend; stattdessen gebe ich etwas klischeemäßig mein letztes Geld für Bier aus; ich habe wirklich keinen einzigen Cent mehr, als ich später nach Hause gehe. Zwischen Kotti und Kottbusser Damm werde ich gleich mehrere Male von einigen Partypeople fast über den Haufen gerannt. Aber, wenn ich so zurück an Wittenau denke, so ist das vielleicht auch völlig in Ordnung so.

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