IN KREUZBERG IST DAS GANZE JAHR WEIHNACHTEN: Der wärmste Ort
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
Vorm Borchardt unterhalte ich mich mit einer Fotografin, die einmal Egon Krenz porträtierte. Den letzten (in Wahrheit vorletzten, den letzten kennt aber keiner) Staatsratsvorsitzenden der DDR. Er lebe in einem Bungalow, und sie habe ihn dort besucht, es sei bedrückend gewesen. Er habe einen kleinen Blumenstrauß in der Hand gehalten. Alles ganz klein, das bunte kurzärmelige Hemd, das er trug, hatte Flecken, und er servierte einen billigen Likör. Ich erinnere mich an den Pfefferminzlikör, mit dem sich mehrere meiner Klassenkameraden Ende der Neunziger in Alkoholkliniken gesoffen haben. Mit 16. Sie mussten jeweils eine Klasse wiederholen.
Im Borchardt sitzen viele Leute, die gut gekämmt sind und gut riechen. Es gibt sonst nichts weiter davon zu berichten, außer dass das Entrecote extrem groß war und dass man sich, an so einem Entrecote herumkauend, kaum unterhalten kann. Es hat etwas ähnlich Erniedrigendes, wie Salat zu essen auf Empfängen oder so. Das sollte verboten werden. Im Gespräch sich einen Rucola-Strauch elegant und auf beiläufige Weise in den Mund zu schieben, ist unmöglich. Es hat immer etwas von Kampf. Früher setzte man seine politischen Gegner auf kleine Stühle, heute serviert man ihnen Salat. Perfider Gedanke.
Das Bett und das Roses
Wir sind dann ins August II gegangen, wobei man sich im Borchardt schon darüber gewundert hat, denn ins August II, einem Laden, oha, in der Auguststraße Nummer 2, da gehe man nicht vor zwei Uhr hin. Na ja. Als wir an der Bar stehen, habe ich das gut verstanden. Es gibt dort aber auch einen Moskow Mule, der war lecker und den schütten wir runter wie Hungernde und gehen. Es sollte ein richtiges Mitte-Erlebnis werden, was es auch war. Denn als wir uns ins King Size reinquetschten, kam mir so vieles kalt und leer vor, obwohl so viele Menschen hier sind. „Bist du die Tochter von Sartre?“, fragt einer, der der Sohn von Che Guevara sein könnte.
Flucht. Der wärmste Ort in diesen Tagen ist natürlich das Bett – und das Roses, Oranienstraße. Einen schöneren Weihnachtsbaum, wie dort einer steht, sah ich nie. Ein kleiner, weißer, von innen her violett leuchtender Kristallweihnachtsbaum mit goldenem Lametta. Wir sitzen an der Bar. Gabriela hinter der Bar befiehlt zu rauchen. Ich rauche. In Kreuzberg ist sowieso das ganze Jahr Weihnachten, denke ich.
Wir haben über Äthiopien gesprochen und über die Unterschiede zwischen uns und da. Einer der für mich plausibelsten Unterschiede ist, dass es den Obdachlosen dort viel besser gehe, denn da gäbe es eine Pflicht oder Regel, nach der Predigt jedem Obdachlosen was in die Hand zu geben. Geld. Essen. Vor den Kirchen sind Schlangen. Wir haben noch andere Unterschiede gefunden, zum Beispiel, dass das viele Beten die Menschen dort unten länger jung und gut aussehen lässt. Was wir anhand vieler Fotografien beweisen konnten. Wir nickten. Es läge am Spirit. Da überlegt man, ob man nicht eigentlich selbst in einem geistigen Entwicklungsland lebt. Und ob es seitens Äthiopiens nicht Hilfsaktionen geben könnte. Sagen wir Patenschaften. Geistige Patenschaften. Ari übernimmt Patenschaft für Gabi.
Wir halten am Straßenrand an einem weißen Plastikzelt, vor dem einer Currywurst brät. Er hat eine weiße Plastikschürze um. Zweimal bitte und zwei Dosen Cola. Am Ende schmeißen wir die Dosen in die Tonne. Der Mann vom Grill hält die Zange in die Luft. Drohend. „Keene Kinderstube?“, fragt er, und da musste ich erst mal nachdenken. Er spielte auf das Dosenpfand an. Die Rituale sind von Land zu Land verschieden, sagt die Fotografin.
Wir laufen durch den Görlitzer Park, es ist sehr früh am Morgen. Habe ich noch Empfang? Wir reden ein bisschen. Raureif nennt man das auf den braunen Blättern, wenn sie weiß sind. Mit weißen kleinen Kristallen. Man sollte öfter spazieren gehen. Joggen ist so 90er. Es ist still. Der Park ist viel heller als die Stadt. Es glitzert alles. Was habe ich letztes Jahr zu Jochen gesagt? Das war so bescheuert. Wie konnte ich nur so dumm sein. Habe ich noch Empfang?
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