WAS FEHLT BEI ALFRED HRDLICKAS MONUMENT: Arena der Meute
VON ISOLDE CHARIM
Was bringt eine Künstlerin dazu, in ein bestehendes Monument einzugreifen? Was bringt eine Filmemacherin dazu, einem Denkmal ein Bild hinzuzufügen? Offenbar der Befund, hier würde etwas fehlen. „The Missing Image“ heißt demnach auch die Installation, mit der Ruth Beckermann Alfred Hrdlickas Wiener „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ ergänzt. Es ist die Bronzefigur des „straßenwaschenden Juden“, der Beckermanns Kritik schon seit Jahren galt. Diese Figur soll an eine österreichische Spezialität erinnern, an die „Reibpartien“. In den Tagen nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, im März 1938, wurden Juden gezwungen, mit Bürsten, Zahnbürsten und Lauge, die Straßen von den Parolen des Ständestaats zu säubern. Auf Knien mussten sie den Schriftzug „Österreich“ (den Appell für die österreichische Unabhängigkeit) wegreiben – und dies nicht in undefinierter Einsamkeit, wie Hrdlickas Figur, sondern umringt von lachenden Gaffern. Das fehlende Bild des Monuments war jenes der damaligen Zuschauer. Von ihnen gab und gibt es kaum Bilder.
Nun hat Beckermann, eine erfahrene Dokumentarfilmerin, in einem Amateurfilm dieses „Missing Image“ gefunden – eine 5-Sekunden-Sequenz. Sie hat daraus einen Kurzfilm von 1,5 Minuten gemacht, der nun in Endlosschleife das Mahnmal ergänzt. Was sieht man auf dem fehlenden Bild? Man sieht eine lachende Menge, die sich um den Straßenwascher herum gruppiert hat. Umstellen, gemeinsame Erregung, gemeinsame Konzentration auf ein Objekt und kläffen, lachen – all das sind nach Elias Canetti die Kennzeichen der Meute. Aber das ist nicht alles. Man sieht in dem kurzen Film auch SA-Männer mit Armbinden, die sie als Ordnungshüter legitimieren sollen. Erst das ergibt das ganze Bild: die Gedemütigten, die auf Knien die Straße putzen, die erregte Meute der Grinser und die „Ordnungshüter“. Erst so erhält das Schauspiel seinen spezifischen Charakter.
Das ist nicht einfach eine Überschreitung zivilisatorischer Normen, sondern eine geregelte Überschreitung. Das ist nicht einfach ein Tabubruch, sondern ein erlaubter Tabubruch. Den niederen Gefühlen wird eine Arena eröffnet. Sie werden nicht unterdrückt, sondern öffentlich enthemmt. Ordnung und Transgress der Ordnung fallen zusammen.
Was man hier sieht, ist die Einübung in eine neue Legalität: eine Legalität, die die Lizenz zum Bösen erteilt. Wenn Arendt schreibt: „Das Gesetz hat sie alle zu Verbrechern gemacht“ und dem Holocaust hätte jegliche moralische Dimension gefehlt, dann wurde dies durch solche Szenen vorbereitet. Sie sind das Missing Link zwischen Pogrom-Antisemitismus und „Banalität des Bösen“, die Verbindung zwischen Hassentladungen und Einspeisung des Bösen in ein Verwaltungssystem.
Die Gruppenbildung um die Straßenwascher herum ging über die Meute hinaus. Hier wurde die Meute zur Gesellschaft neuer Art. Hier konnte das Außerkraftsetzen der Moral durch die neue Legalität erlebt werden. Hier wurde die Auflösung des Gewissens als neue Ordnung erfahrbar. Im Film wird das sichtbar. Kokett blinzeln die Zuschauer in die Kamera. Offen präsentieren sie ihr Lachen. Keine Spur von Schuldbewusstsein. Auch Kindern wird das Schauspiel nicht vorenthalten. Diese „Orgien der Gemeinheit“ (Martin Pollack) werden am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit zelebriert. Das unterscheidet die „Reibpartien“ von anderen Demütigungsritualen, die eben keine neue Legalität begründen – etwa die Bilder aus Abu Ghraib.
Beckermanns großartige Installation – zugleich „künstlerisches Werk und geschichtspolitische Intervention“, so Alexander Horwath – ist noch bis November zu sehen. Bis November hat das Denkmal also sein „Missing Image“. Bis dahin ist es komplett. Wenn es dann wegkommt, wenn es wieder zum tatsächlichen „Missing Image“ wird, dann wird es fehlen.
■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien
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