Studieren wie es sein soll

■ Richard Krautheimer, einer der herausragenden Kunsthistoriker dieses Jahrhunderts, geboren 1897 in Fürth in Bayern, 1933 zur Emigration gezwungen, lehrte bis 1971 in den USA, lebt seitdem in Rom. Seine Erinnerungen an sein Studium in den zwanziger Jahren erinnern daran, was Studieren einmal bedeutete und wie es sein soll, um diesen Namen zu verdienen.

Richard Krautheimer

Ich fange mit den Studienjahren an. Als ich Ende 1918 nach zweieinhalb Jahren aus Dreck und Blut zurückkam, dacht‘ ich nicht daran, Kunstgeschichte zu studieren. Daß es so was gab, wußte ich nur vage - es war etwas für Mußestunden und „höhere Töchter“. Also fing ich ein „Brotstudium“ an, Jura, in München. Für die Juristerei hatte ich immer etwas übrig, und römisches Recht von Rabel dargestellt war großartig klar und unabdingbar -, junge Leute stoßen sich nicht an Härte. Ich wäre auch ein ganz guter Jurist geworden Richter oder Rechtsgelehrter, nicht Anwalt. Aber Otto Wertheimer, mit dem ich das Zimmer teilte - wir kannten uns vom Offizierskurs -, studierte tatsächlich Kunstgeschichte später schrieb er seinen Nicolaus Gerhaert. Er nahm mich also mit in Wölfflins Kolleg, und ich war hingerissen: nicht von dem, was Wölfflin sagte - diese seine Formanalyse nahm ich als selbstverständlich hin (Aby Warburg war mir und den meisten unbekannt); aber wie man eine Vorlesung aufbaut, einprägsam und überzeugend, das konnte man dort lernen. Ein guter Teil Effekthascherei war auch dabei - jeden, der auf dem Katheder steht, lockt der Versucher Mimos. So ließ ich mich denn nicht unwillig in die Humaniora treiben: Geschichte bei Erich Marcks, Bismarckverehrer und Nationalist - aber wie konnte er darstellen; ein Einhart -Seminar bei Buchner, wo man Methode lernte - für Geschichte war ich offen, seit in der Prima unser Rektor Vogel uns römische Geschichte vorgetragen; Literatur der Romantik bei Strich - verschwommen-expressionistisch; aber ein- oder zweimal habe ich auch bei Max Weber gehört. Die Freigebigkeit des damaligen deutschen Universitätsbetriebs war großartig - man konnte unentgeltlich und unverpflichtend überall naschen. Das war auch gefährlich. Es gab dem Anfänger weder Halt noch Richtung, aber es gab ihm Weite des Blicks und dazu das Wissen, daß jedwedes Fach doch nur ein winziger Teil eines Ganzen ist, das zum Grundbesitz des Menschseins gehört. Dazu kam der Reichtum der Bibliotheken und Museen, die einem offenstanden, etwa der Pinakothek, wo man frühe Niederländer skizzierte - Wölfflin verlangte das, und es war einprägsam. In der Staatsbibliothek bekam ich im Rahmen eines Wölfflin-Proseminars die ottonischen Handschriften in die Hand und habe sie nie vergessen. In Berlin (das war später) ging man im Kaiser-Friedrich-Museum zu Volbach, damals Volontär, und der schob einem ein byzantinisches Elfenbein über den Schreibtisch: „Was saache Se?“ Man hörte in München Bruno Walter den Figaro dirigieren, sah die Bergner in den Kammerspielen und in Berlin Büchners Danton von Reinhardt inszeniert.

Die Wahl des Fachs fiel dann doch auf Kunstgeschichte. Paul Frankls Vorlesungen und Übungen waren entscheidend: romantische Baukunst, Baukunst der italienischen Renaissance. Das hielt mich fest: Ein Bau, den konnte man beschreiben, dafür gab es eine feste Terminologie, man konnte die Baufolge „lesen“, er war geplant für einen bestimmten Ort, für bestimmte Aufgaben, Religionsübung, Repräsentation - und das zog ihn in Bereiche jenseits bloßen Bauens. Er wurde Geschichtsquelle; und überdies war er, obwohl nicht immer, ein Kunstwerk.

Damals habe ich zum ersten Mal Burckhardt gelesen, Geymüller, auch Dehio-Bezold, Lasteyrie. Aber bei Frankl lernte man noch mehr als Kunstgeschichte: daß man im Seminar wie im Kolleg und Nachgespräch des Lehrers Mitarbeiter war, zwar blutiger Anfänger, aber doch junger Kollege; daß man seinen Weg - by trial and error - selbst finden müsse, genau wie er; auch daß der Professor kein Gott war, sondern ein sehr menschlicher Mensch. Und das war das Wichtigste.

Nach München Berlin - das war wieder die Freiheit des Studiums von damals, man war freizügig, kannte keine Seminarscheine, Wartelisten, Klausurarbeiten, tödlich für Lehrer wie Studenten. Erste Begegnung mit Adolf Goldschmidt. Ich will gleich gestehen, daß er mir damals wenig Eindruck machte. Die Vorlesungen waren nüchtern, und ich verstand noch nicht die Akribie der wissenschaftlichen Arbeit, mit der das Material statt mit „Grundbegriffen“ gemeistert wurde; das Corpus der byzantinischen Elfenbeine war eben am Erscheinen. Sein wirkliches Wesen ging mir erst über die nächsten zwanzig Jahre auf: die Sauberkeit des Gedankens und der Arbeit, die Fülle des Wissens, seine Bescheidenheit, seine Menschlichkeit. Nie werde ich ein Gespräch bei seinem letzten Besuch in New York vergessen, 1938 oder 1939: „Tja, als ich jung war, so dreißig, da dacht‘ ich, die Kunst des Mittelalters, die kenn‘ ich ja nu. Dann, wie ich fünfzig war, dacht‘ ich - nein, das is‘ zuviel; aber deutsche und französische Plastik des 13.und 14.Jahrhunderts, ja die kenn‘ ich. Und jetzt, über siebzig, scheint mir, was ich kenne, ist die Plastik 1230-1250 in Niedersachsen.“ Aber schon 1920 hat er mir geholfen, die vagen Scheinbegriffe unseres kunstgeschichtlichen Jargons loszuwerden. Er zeigte im Proseminar Schongauers Geburt Christi; ich fing an: „Der Raum ...„; „aber Herr Krautheimer, is‘ doch gar kein Zimmer, is‘ doch 'n S-tall.“

Anderes in Berlin: Theater, Freunde, Ausflüge; ein privatissime über Rembrandts Radierungen, in Weisbachs Wohnung, die prachtvollen Stücke seiner Sammlung in der Hand. Dann ein Sommersemester in Marburg: Hamann, Irrwisch und Ikonoklast - französische Plastik, romanisch und gotisch, ein Marathonseminar. Wieder vieles außerhalb der Kunstgeschichte - der Archäologe Jacobsthal, der Theologe Heiler („Das Heilige“), mittelalterliche Geschichte bei Stengel, langweilig, aber sauber. Schließlich nach Halle, zu Frankl - Doktorarbeit. Das Thema war selbst gewählt, Die Kirchen der Bettelorden in Deutschland. Ich würde die Arbeit keinem Kandidaten erlaubt und sie, wie durchgeführt, nicht angenommen haben. Der Gegenstand war zu breit gegriffen, die schriftlichen und anderen Quellen nicht erforscht, alles nur am Bau abgelesen, rein von der Form her gesehen - Wand, Raum, Gliederung - und einseitig auf die übrigens richtige These gebracht: Der Baustil der Bettelorden sei nicht „Reduktionsgotik“ - so Dehio - sondern Neuschöpfung und Anfang der Spätgotik. Ein begabter Essay, aber keine Doktorarbeit, die doch ein „Meisterstück“ sein sollte, eine Probearbeit zum Beweis, daß man das Handwerk beherrscht. Frankl ließ mich gewähren. Er dachte wohl, ich würde den Weg schon finden. Das hab‘ ich auch. Es hat nur lange gedauert.

Im Winter 1923/24 im Preußischen Denkmaldienst in Erfurt. Dort lernte ich meine Frau kennen, Trude Hess. Im März haben wir geheiratet und gingen dann für anderthalb Jahre nach Italien, finanziert von den Eltern, die zum Glück dazu in der Lage waren. Glücksfälle haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Eltern wie Kinder nahmen die Vorteile des Wohlstands damals bedenkenlos hin. Ganz Italien durchreist, von Palermo und Bari nach Neapel, Bologna und Venedig, nach Mailand, Florenz und Siena. Ab November 1924 verbrachten wir acht Monate in Rom. Es war die erste Begegnung mit der Antike, mit den Kirchen der Stadt, mit Raffael, Michelangelo und Bramante, mit Bernini und Borromini; mit dem Werden der Stadt, abzulesen an der Folge der Bauten unter S.Clemente. All das wurde entscheidend für den Großteil meiner Lebensarbeit; aber das wußte ich damals noch nicht. Nicht zu vergessen die Begegnung mit der Bibliotheca Hertziana und ihrem Direktor, Ernst Steinmann. Ihm verdanke ich viel. In den folgenden acht Jahren hat er mich mehrmals für ein Semester an die noch junge Bibliothek eingeladen. Damals begegnete ich auch zum erstenmal Ludwig Curtius, dem genialischen Interpreten antiker Kunst, und seinem Gegenpart am Deutschen Archäologischen Institut, von Gerkan - kleinkarierter Grabungsmensch, aber Präzision lernte man da.

Mindestens soviel als von den „Erwachsenen“ aber lernte man im Wechselgespräch und bei privaten Führungen von Gleichaltrigen: Rudi Wittkower sprach über Bernini und Pietro da Cortona, Klauser über frühchristliche Liturgie, Seznec über Renaissance und Antike, ich selbst über konstantinische Architektur. Denn eben damals, um 1927, wurde auch der Grundstein zum Corpus gelegt - wieder ein Zufall. August Grisebach, Ordinarius in Heidelberg, plante einen „Dehio“, ein Handbuch der Kunstdenkmäler Roms, Wittkower übernahm das Barock, ich das Frühchristliche. Als das Projekt versandete, bot mir Steinmann an, die christlichen Basiliken selbständig für die Bibliotheca Hertziana zu bearbeiten. Harald Keller, damals Stipendiat der B.H., jetzt mein ältester und treuester Freund, assistierte mir. Daß das Corpus dann auf fünf Folienbände anwachsen und nahezu fünfzig Jahre Arbeit beanspruchen würde, haben weder Steinmann noch ich geahnt. Sonst hätten wir's wohl bleibenlassen.

Doch fiel in diese Lehrjahre noch vieles andere: Reisen nach Frankreich, mehrere Male und mehrere Monate, Paris, der Louvre, romanische und gotische Kathedralen und Plastik; nach Wien und Prag, beides zu kurz, aber doch bleibt Wien unvergessen, die Museen, das Barock, auch die großartige Kunst- und Wunderkammer des alten Figdor. Damals schrieb ich auch als Habilitationsschrift in zwei Bänden eine Europäische Plastik um 1400 - nichts weniger als das. Es war falsch angepackt, ich kannte zwar das Material, versuchte aber figurale Plastik als „reine Form“ zu sehen; doch hatte ich wohl den „Realismus“ höfischer Kunst nicht falsch interpretiert, in Paris, Prag, Wien, Mailand in der Generation vor 1400; auch die danach folgende Reaktion des „Schönen Stils“. Das kam dann dreißig Jahre später dem Ghiberti zugute und schon in den späten zwanziger Jahren einigen spigolature über die Masegne und über Quercia. (Über letzteren hätte ich gerne eine Monographie geschrieben, jetzt ist es zu spät.)

Die Habilitation stieß auf Hindernisse, die ich, unschuldig wie ich war, nicht erwartet hatte. Der Ordinarius, an den ich zuerst herantrat, war nicht abgeneigt. Dann, überraschend: „Sind Sie eigentlich noch Jude, Herr Doktor?“ „Jawohl, Herr Geheimrat.“ „Das ließe sich doch wohl ändern?“ „Nein, Herr Geheimrat.“ Das war das Ende. Und ich war nicht, noch bin ich ein gläubiger Jude; auch kein nationaler Jude, also Zionist. Ich reagierte ganz spontan gegen eine unmoralische und unsaubere Zumutung, dabei wohl auch mit dem Gefühl, man sei seiner Herkunft verpflichtet. Ich erzähle die Geschichte als einen Beitrag zum Bild des Wilhelminischen Deutschlands innerhalb der Weimarer Republik. Das Schlimmste war die naive Unschuld, mit der der Vorschlag gemacht wurde.

So habilitierte ich mich denn in Marburg. Hamann weigerte sich, die tausend Seiten der Plastik um 1400 zu lesen sie ist dann auch ungedruckt geblieben, und das Manuskript ging verloren. Er habilitierte mich mit den Mittelalterlichen Synagogen - das war kein gutes Buch. Das einzig Wertvolle ist der Katalog der Bauten, da eben die Mehrzahl im Dritten Reich zerstört wurde. Da ist meine Antrittsvorlesung schon besser. Zwar ist diese letztere („Die Anfänge der Kunstgeschichtsschreibung“, hier S.277ff.), wie schon die Bettelorden, im Widerspruch gegen die Generation der „Väter“ entstanden - dort Dehio, hier Schlosser, dessen Kunstliteratur eben, 1927, erschienen war. All das Material war da gesammelt, aber mir war es „ein Gebot intellektueller Selbsterhaltung, die Fülle des Geschehens nach ein paar Gesichtspunkten zu ordnen“ (Wölfflin). Daß Schlosser gerade das nicht wollte, hatte ich damals nicht begriffen. So versuchte ich denn am Modell Alberti - Ghiberti, einer Kunstgeschichte nach Künstlern eine „Kunstgeschichte ohne Namen“ gegenüberzustellen. Das kommt mir heute zu einfach vor. Das alles war noch ein Suchen und Tasten, auch die paar Semester, die ich in Marburg las. Überhaupt kommt es mir vor, als sei ich damals ein nicht sehr glücklicher, ein schwieriger und nicht sehr liebenswerter Mensch gewesen: ganz gescheit, aber schrecklich unsicher und deshalb arrogant; ungeschickt im Verkehr mit Menschen; ehrgeizig, stets in Opposition und recht ungezogen gegen die ältere Generation. Kein netter junger Mann; dem jungen Doktor Krautheimer begegne ich heute nicht gern.