: „Gespenster der Vergangenheit tauchen wieder auf“
■ Erste Pressereaktionen im Ausland auf den Ausgang der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus / DDR: „Neofaschisten im Senat“ Italien: „Insel der Toleranz“ am Ende / Frankreich: Schönhuber als Zwillingsbruder von Le Pen / Schweiz:„Ein Denkzettel für Diepgen“
Berlin (dpa/ap/taz) - Mit dem „makabren“ Wahlerfolg der „Republikaner“ bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus hat die DDR die Mauer erneut gerechtfertigt. Das FDJ-Organ 'Junge Welt‘ schrieb am Montag, „die Bedeutung des Wortes 'antifaschistischer Schutzwall‘ für unsere Staatsgrenze zu Westberlin ist also keineswegs antiquiert oder gar überholt, wie das einige im Westen stets aufs neue wiederholen, sondern aus gegebenem Anlaß bitter aktuell.“ Unter der Überschrift „Nährboden brauner Saat“ schrieb die in Ost -Berlin erscheinende Tageszeitung, die Frage, wer jetzt in Westberlin regieren werde, sei „zweitrangig“ angesichts einer „bestürzenden Tatsache“: „Die Neofaschisten sind im Senat.“
Die 'Junge Welt‘ schrieb weiter, es herrsche Betroffenheit bei allen demokratischen Kräften in West-Berlin, „die sich in den vergangenen Wochen bereits gegen den Unflat der Republikaner zur Wehr gesetzt haben und dafür die Knüppel der Westberliner Polizei zu spüren bekamen; und eine andere Art der Betroffenheit, die nur als verlogen gelten kann, bei den bisher Regierenden, die diese Knüppel dirigierten.“ Den „Republikanern“ sei „durch eine soziale Kahlschlagpolitik des CDU/FDP-Senats in erheblichem Maße der Boden bereitet worden“.
Derart ungläubig standen Italiens Medien am Sonntag abend vor dem Ergebnis der Berlin-Wahl, daß sie zunächst keinerlei Kommentar zustande brachten. Später haben sie sich dann wohl gefaßt - doch man merkt ihren Artikeln an, daß sie speziell wegen des Siegs der „Republikaner“ schwer in Informationsnot waren. Bemerkenswert bei allen Berlin-Berichten ist der Umstand, daß die Artikel durchweg just neben den Anklagen der Amerikaner gegen die deutschen Chemiehilfen für Libyen, die Atomhilfen für Pakistan oder zumindest neben die Auseinandersetzung um die neue Nachrüstung gesetzt wurden: Schönhuber als sichtbarer Ausdruck deutscher Bösartigkeit in aller Welt.
Der liberale 'Corriere della sera‘ schreibt: „Spektakulär sind gestern die Rechtsextremisten anläßlich der Wahlen in West-Berlin in die politische Szene Westdeutschlands eingerückt.“ Die Industrie (und Fiat)-nahe 'Stampa sera‘ meint: „Die Folge dieses völlig unvorhergesehenen Ausgangs ist die totale Paralyse der Politik - es gibt keine Mehrheit mehr.“ Schließlich noch 'L'Unita‘: „Franz Schönhuber hat gestern im Fernsehen sein 'Programm‘ vorgestellt, das in vielem dem von Le Pen in Frankreich ähnelt - und man hat verstanden, daß nun auch in dieser Insel der Toleranz, die West-Berlin trotz der vielen bösen Vorgänge immer war, die Gespenster der Vergangenheit wieder auftauchen.“
In Tel Aviv äußert sich Abraham Haas, Holocaust -Überlebender aus Osteuropa und jetzt Mitglied des Sekretariats der Weltorganisation jüdischer Antinazi -Kämpfer, Partisanen und Holocaust-Übelebender, in einer ersten Stellungnahme zum Berliner Wahlresultat: „Für mich kamen die Erfolge der neonazistischen 'Republikaner‘ nicht überraschend. Rechtsextreme finden es nicht mehr nötig, bei den etablierten Koalitionsparteien Unterschlupf zu finden. In verschiedenen westeuropäischen Ländern erlebt die rechtsradikale Bewegung eine Wiederauferstehung, und eine Rechtsbewegung im allgemeinen ist im Gange. In der Bundesrepublik und Berlin hat man nicht wirklich mit der Nazi-Vergangenheit aufgeräumt, und in breiten Kreisen der Rechten will man auch von der Judenvernichtung nichts wissen. Die Rechtsextremen haben wieder 'Endlösungen‘: diesmal sind es die Ausländer. Auch in Israel gibt es 'Transfer'-Forderungen im rechtsradikalen Lager: hier sollen die Palästinenser in Nachbarländer 'befördert‘ werden. Die rechtsradikale Gefahr besteht überall und muß überall bekämpft werden, bevor sie wieder eine 'Machtübernahme‘ inszenieren kann. Das bedenkliche Erstarken der Neonazis gerade in Berlin sollte allen eine ernste Warnung sein.“
Am Montag war in Paris nur schwer festzustellen, ob die wenigen, zurückhaltenden Reaktionen in Frankreich auf die Berliner Wahlereignisse eher dem Desinteresse oder einer besonderen Vorsicht entsprangen. Desinteresse vielleicht deshalb, weil man sich auf französischer Seite in den letzten Jahren an rechtsradikale Wahlerfolge gewöhnte, besondere Vorsicht aber auch, weil sich Voraussagen und Analysen über die Zukunft von Jean-Marie Le Pen, dem Führer der französischen Rechtsradikalen, und seiner Partei, der „Front National“, in diesem Jahrzehnt regelmäßig als falsch bewiesen. Meistens unterschätzte man Le Pen. So wollten am Montag morgen weder die Sozialistische Partei noch die „Front National“ zum Berliner Wahlergebnis Stellung nehmen und baten um etwas Geduld. Auch Radio und Fernsehen bemerkten erst spät, daß sich in Berlin etwas Außergewöhnliches getan hatte. Im französischen Staatsender „France-Inter“ versuchte man alsbald Erklärungen zu finden: Berlin sei doch eine sehr außergewöhnliche Stadt, die „im täglichen Frontal-Schock mit dem Osten leben müsse“, überlegte Chefkommentator Michel Barthelemy. Wie in Frankreich auch noch zu Gorbatschows Zeiten üblich, suchte Barthelemy den Teufel im Osten. Präziser indes argumentiert die Pariser Abendzeitung 'Le Monde‘, die als bisher erste französische Tageszeitung ausführlicher zum Wahlergebnis Stellung bezieht. Franz Schönhuber wird hier als „Zwillingsbruder Jean-Marie Le Pens“ vorgestellt, der dessen rassistische und xenophobe Ideen nun auch auf der anderen Seite des Rheins gewinnbringend verkaufen will. 'Le Monde‘ verwarnt auch das eigene Land : „Die Alliierten müssen nun die Konsequenzen davon überdenken, daß sie erstmalig in Berlin einer rechtsextremen, chauvinistischen und xenophoben Kraft die Teilnahme an einer Wahl erlaubten.“
Die 'Neue Zürcher Zeitung‘ schreibt über den „Denkzettel für Diepgen“: „Bei den Regierungsparteien wollte man bis zuletzt nicht wahrhaben, wie sehr die xenophoben Reflexe in der Stadt in letzter Zeit gewachsen waren und wie leicht diese sich mit der weit verbreiteten Unzufriedenheit über die Opfer, welche beispielsweise die Gesundheitspolitik von vielen verlangt, verbinden ließen.“
Die 'Basler Zeitung‘ spricht von dem „Schock von Berlin“ und meint: „Aber in Berlin hat nicht nur die überdurchschnittlich hohe Zahl ausländischer Bewohner das Regierungsbündnis von CDU und FDP zerschlagen. Es war auch massive Unzufriedenheit mit der Bonner Regierungspolitik... Dies ... könnte dann auch der erste Schritt auf jener Treppe von nahezu zehn Kommunal- und Landtagswahlen bis zur Bundestagswahl im Dezember 1990 sein, an deren letzter Stufe die Bundeskoalitionspartner CDU/CSU und FDP voneinander Abschied nehmen müssen: wie gestern in Berlin.“
rai/M.B./Wollin/eka
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