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Schlüsselfunddienst oder Peep Shows

■ Volkskammer verabschiedete Gewerbegesetz / Im Prenzelberg stapeln sich über 1.000 Aufträge

Im deutschen Kleinstaat DDR sind Gründerzeiten angebrochen. Nach Joint-ventures-Verordnung, Verkündung der vollen Gewerbefreiheit und dem jüngsten Gesetz der Volkskammer, das volle Unterstützung für alle privaten Betriebe zusichert, scheint alles, oder doch fast alles möglich. Der Eigeninitiative sind keine Grenzen gesetzt. Ob braver Angestellter, Hausfrau, Fließbandmalocher oder Beschäftigungsloser - jeder kann nun endlich sein eigener Chef werden, dem Drang nachgeben, zu gründeln, zu managen, zu organisieren, zu produzieren, zu handeln. In den Räten der Stadtbezirke stapeln sich die Anträge. Im Prenzlauer Berg sind es in den diversen Abteilungen - Handel und Versorgung, Stadttechnische Versorgung, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, örtliche Versorgungswirtschaft, Kultur sowie Körperkultur und Sport - bislang über 1.000. Und wer weiß, was jetzt noch kommt.

Kaum zu glauben ist, was den Bürgern dieses Stadtbezirks und ähnlich wohl andernorts und überall - vorenthalten wurde: Partnervermittlungen, Vervielfältigungszentralen, Glas- und Gebäudereinigungen en masse, und Wach- und Schließgesellschaften, Detekteien, Schlüsselfund-Dienste, Peep Shows. („Den Antrag haben wir aber gleich zurückgegeben“, sagt die Dame vom Rat etwas pikiert.) Soweit ist es - noch - nicht.

Jedem Antrag war außer einer Erläuterung des beabsichtigten neuen Gewerbes eine Steuerunbedenklichkeitserklärung, ein polizeiliches Führungszeugnis beizufügen. Und schließlich war anzugeben, welche Räumlichkeiten der Antragsteller zu nutzen gedenkt. Gewerberäume sind knapp. Ohne Räume gab's aber bislang keine Genehmigung und ohne Genehmigung keine Räume. Eine Hürde, die nur der nehmen konnte, der seine Tätigkeit auch im Wohnzimmer abwickeln oder innerhalb einer auf drei Monate befristeten Genehmigung Räume auftreiben konnte.

Jetzt, nach der Verabschiedung des jüngsten Gesetzes in der Volkskammer, tritt ein, was ein kundiger Amtsbesucher nie zu träumen wagte. Die Behörden springen über ihren Schatten, haben schon vorgedacht und gehandelt. So erläutert der stellvertretende Bürgermeister vom Stadtbezirksrat Prenzlauer Berg, Fred Lemke, gestern in aller Frühe, was den Antragsteller nun statt Bürokratie erwartet. Eine Gewerbebehörde - eine für alle. Hier werden nun die Anträge entgegengenommen, lediglich handwerks- und handwerksähnliche Tätigkeiten bedürfen noch einer weiteren Zustimmung der Handwerkskammer. Schließlich sollen Brötchen auch künftig vom Bäcker und nicht von der Sekretärin gebacken werden. Alle anderen nennen nur Namen, Art des erwünschten Broterwerbs und den auserwählten Ort, wo man werkeln will. Anzeigepflichtig ist noch alles, aber der Erlaubnis bedürfen nur noch wenige. So zum Beispiel Sachverständige und Gutachter, Wach- und Schließgesellschaften, Grundstücksmakler und Gewerbe im speisenproduzierenden Bereich, Handel mit erotischen Artikeln und Pfandleiher. Und auch die Gewerberaumlenkung ist nun dort, bei der einen Behörde, angesiedelt. Montag wurde bereits umgeräumt und Dienstag eröffnet.

Alles easy, alles happy? Übrigens, Gründerzeiten. Diese gab's schon einmal. Damals, in den Jahren 1871 - 1873, wurden die Grenzen der deutschen Kleinstaaten gesprengt, Zoll und Handelsbarrieren fielen, die Wirtschaft blühte auf. Zudem kamen noch 5 Milliarden Francs ins Land, die Frankreich als Kontribution nach dem verlorenen Krieg 1870/71 zahlen mußte. Und es wurde gegründelt, spekuliert, gehandelt und produziert. Ähnlichkeiten? Hoffentlich nicht bis zur letzten Konsequenz. Die Blütezeit damals endete in einer großen Pleite.

Martina Döring

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