: Gysi und das Frauenklo
■ Das Tagebuch einer Ex-Insulanerin / Die Wende und alles was noch da war
Am 4. 11. 89 morgens beim Frühstück. Die Nachrichten machen mich darauf aufmerksam, daß heute die große DDR-Demo ist. Es berührt mich, aber es ist weit weg. Wann war ich das letzte Mal im Osten; Zwei, drei Jahre ist es wohl her. Dabei habe ich sogar zwei Themen: DDR-Literatur rauf und runter (ich bin Germanistin) und Polytechnik von A-Z (ich bin Pädagogin und Lehrerin).
Dann habe ich noch eine linke Biographie. Kenne Marx und das Kapital. Ich habe mir die DDR-Welt in den Westen geholt.
Doch, ich muß rüber. Wie komme ich dort hin? Wo ist die Demo und wann und wie erfahre ich was? Egal, einfach los zur S-Bahn. Was kostet die Fahrt und wo steige ich aus.
Angekommen am Alexanderplatz stelle ich fest, daß nichts los ist. Ich will fragen, wo denn die Demo ist und traue mich nicht. Obwohl das Klima beim Übergang Friedrichstraße schon ein anderes war. Der Grenzer wirkte verstört, murmelte etwas von „sowieso alles bald egal“. Aber nun, kann ich einfach fragen, was los ist? Wen denn?
An den Häusern selbstgemalte Transparente. In Ostberlin! Aber kaum Menschen. Erstaunlich, schon alles vorbei? Dann doch die ersten Ordner. Sie sehen anders aus als bei uns. „Alles ganz einfach, dort hinten ist jetzt Kundgebung“ sagen sie zu mir.
Auf einmal bin ich mittendrin. Für Waldorfschulen, gegen Sexismus in der Sprache, für freie Kindererziehung. Wie vertraut die Parolen sind. Aber die Menschen gucken anders. Ungläubig, ernst, schüchtern und dennoch unglaublich wach.
Die Masse buht. „Entschuldigung, wer spricht denn da?“ „Markus Wolf“. Ah, sagt mir nichts. Langsam, ganz langsam hangele ich mich vor. Stasi. Und ich merke, daß Stasi das Thema schlechthin ist. Die Menschen sind aufmerksam, kaum sichtbar auch aufgeregt. Sie lernen gerade zu rufen und zu protestieren. Manchen ist das nicht geheuer.
Es strengt mich an, daß alles so anders ist. Es fehlt das laute Aggressive, das ich von Demos kenne, um das, was ich sehe und höre, überhaupt als Demo wahrzunehmen. Außerdem ist mir kalt und ich brauche einen Kaffee. So versacke ich in einer Mokkabar mit einem gut betrunkenen Metzger, der mir politische Nachhilfe erteilt.
Er will eine Sau fliegen lassen, darauf laufe es doch hinaus im Leben. Er sei reich, aber das Geld sei nichts wert. Ob der heutige Tag ihn denn nicht optimistisch stimme, frage ich ihn. Eine Millionen Menschen - wer hätte das noch gestern gedacht? Nein, sagt er. Er habe keine Westverwandten, deshalb komme er erst in zehn Jahren rüber.
Ich weiß nicht, wann der kam. Denn meine Adresse rückte ich am 4. 11. lieber doch nicht raus.
9. 11. 89. Seit fünf Tagen gucke ich ständig Ostfernsehen. Es liegt was in der Luft. Die Aktuelle Ka
mera ist anders geworden. Und dann die Pressekonferenz, auf der Schabowski ganz zum Schluß rausrückt mit der Maueröffnung. Mein Puls schlägt hoch und keiner ist da, mit dem ich reden kann.
Ich telefoniere in der Republik herum, erkläre allen Ungläubigen, was ich verstanden habe. Dabei laufen zwei Radios und ein Fernseher gleichzeitig.
Die ersten, die kommen, sehen ungläubig aus. Erst wenn sie mit beiden Füßen im Westen stehen, entspannt sich ihr Gesicht, kommen die Tränen.
10./11. 11. 89 Auch ich am Brandenburger Tor und an den Grenzübergängen. Gucken, wie Westler den Ostlern klatschen. Scheint ganz schön echt zu sein, die Freude. Ich verstehe nicht den Pessimismus der westdeutschen Freunde, die jetzt schon vom aufgeblühten Nationalismus sprechen.
13. 11. 89. Natürlich spotte ich schon längst über dieses Volk, das wirklich, ich hätte es nie geglaubt, Bananen in größten Mengen verzehrt. Und sich bar jeden modernen Geschmacks für den größten Ramsch begeistert.
Es ist mir nicht unangenehm, daß mein Bioladen und meine Kneipen von DDR-BürgerInnen nicht besucht werden.
Und furchtbar froh bin ich darüber, meinen Umschulungsantrag bereits vor einem Jahr gestellt (und bewilligt bekommen) zu haben - nicht jetzt mit Übersiedlern oder noch mehr Deutschen konkurrieren zu müssen. Ich habe eine Stelle. Der Bus ist voll, aber ich sitze drin.
11. 12. 89. Besuch aus dem Osten. Elfi aus Leipzig. Sie hat einen Freund in Westberlin und war schon letztes Jahr in Frankreich. Nur: Der Freund will nicht mehr so wie früher.
Elfi hat Stolz. Sie kennt nicht die feministische Keule, die zuweilen in solchen Fällen auf den flüchtenden Mann niedergeht. Sie genießt tapfer, daß sie wenigstens mit uns, Freunden des Freundes, schon eigene Westkontakte hat.
Dann, am 12. 12. 89, Anruf derVerwandten aus Frankfurt/Oder. „Wir sind gerade zufällig...“ „Klar doch, kommt vorbei.“ Zuerst will ich Sahnetorte kaufen, aber dann fällt es mir ein: Obsttörtchen wären der Hit. So ist es denn auch. Sie entschuldigen sich für jedes Stück, das sie mit sichtbarem Genuß vertilgen.
Mir erscheint das türkisfarbene Ledersofa auf einmal unglaublich obszön in diesem Raum.
Die aktuelle Lage? Schwierig, weil im Osten nichts mehr funktioniert. Ich glaube es nicht. Versuche zu argumentieren, daß der Sozialismus kein System der Verschwendung ist, daß man darauf aufbauen könnte. Schlage vor, daß die DDR sich gleich die Ökologietechnik unter den Nagel reißt, damit wirtschaftet, nicht all unsere Fehler wiederholt. Aber oh Graus. Umweltschutz interessiert die lieben Verwandten überhaupt nicht. Bevor man einen Filter auf die Schornsteine setzt, sollen diese erst mal kräftig damp
fen.
Zugegeben, ich höre heute Dinge, die ärger sind, als ich es mir ausgemalt habe. Aber diese Einstellung? Ich denke das erste Mal darüber nach, daß Menschen, deren Initiative 40 Jahre lang nur frustriert wurde, den Glauben an die eigene Kraft verloren haben.
Der Sozialismus emanzipiert den Menschen zum Subjekt der Geschichte.
5. 1. 90. Endlich zurück in Berlin. Was sind Weihnachtsferien gegen diese Stadt in dieser Zeit?
Am Wochenende also auf in den Osten, in die Ecken, die mich lange fasziniert haben. Ein Jahr lang zum Beispiel kam ich täglich am Grenzübergang Chausseestraße vorbei. Sah manchmal RentnerInnen herauströpfeln. Oder die Angstellten vom Besucherbüro.
Ich dachte bis zur Mauer und fühlte mich am Ende der Welt. Heute erst nehme ich wahr, daß es dahinter weitergeht.
Zu Fuß in die Chausseestraße. Am liebsten ginge ich ganz durch und am Checkpoint Charlie wieder raus. Diese Strecke, die ich bislang nur von unten kenne.
Was solls, schon 'Chausseestraße‘ allein klingt wunderbar in meinen Ohren. Brecht, Kultur, Theater, Biermann, Hugenottenfriedhof. Also auf zum Dorotheenstädtischen Friedhof.
Viele Westler sind schon da. Sie suchen wohl Ähnliches wie ich und rasen planlos herum. „Entschuldigung, haben Sie schon gesehen, wo Brecht liegt?“ werde ich gefragt von einem, dem die Schweißperlen des Eroberns auf der Stirn stehen.
Meine Bilder sind nicht wachzukriegen. Ich bin angenehm verstört.
14. 1. 90. Mit dem Vater aus Westdeutschland nach Ostdeutschland. Ihm was bieten. Schloß Sanssouci Potsdam. Was ich schön und romantisch finde, ist ihm zu verkommen.
Im Schloßpark spricht er Ausflügler der anderen Republik an. Ein spannendes Gespräch entwickelt sich über die bevorstehende Wahl. Gysi sei aber nichts mehr. Wie könne er auch. Er sei ja kein Deutscher. Bong!
Ich will noch hören, daß unsere Gegenüber sich wenigstens über den Umbruch freuen. Insistiere auf Gefühle der Erleichterung.
Nein, nichts von alledem, nie, auch nicht am 9. 11., denn es kann alles nur schlechter werden.
2. 2. 90. Durch Zufall erfahre ich, daß Freunde, Kommunalpolitiker aus Bonn, am Wochenende nach Potsdam fahren wollen. Es gibt nämlich eine Partnerschaft beider Städte. Prima Gelegenheit, mich vom Touristenstatus zu befreien.
Abends über die Glienicker Brücke. Agentenfilme habe ich nie gesehen - sensationelle Gefühle bleiben also aus.
Potsdam ist leer. Wir jagen um die Ecken und machen Witze über die Lebensfreude des realen Sozialismus.
Gastgeber vom Neuen Forum.
Intellektuelle mit zwei reizenden Söhnen. Großes Begrüßungsessen im dunklen Licht der riesigen Wohnung. Gemütlichkeit, Ruhe, Vergangenheit und unglaubliche Nähe bei den Gesprächen.
Natürlich freuen sie sich, wenn wir morgen eine Runde Südfrüchte spendieren. Warum auch nicht.
3. 2. 90. Wir besuchen einen der Gründer des Neuen Forums in Potsdam und hören für uns bedenkenswerte Geschichten. Über fertige Internierungspläne gegen die Opposition, die man vor wenigen Tagen gefunden hat. Und über die Ratschläge aus kirchlichen Kreisen, genau zu prüfen, ob man wirklich alles wissen will, wenn dereinst Stasimitglieder von ihrer Schweigepflicht entbunden werden. Der Arm der Stasi reichte schließlich bis in die eigenen Familien hinein.
Der Besuch im Stasigefängnis löst weniger aus. Denn hier laufen wir mit Besuchern herum, denen wir arrogant unterstellen, daß sie nur diesen Ostknast fürchterlich finden - nicht aber den modernen Strafvollzug im Westen. Natürlich aber berührt es auch uns, die winzigen Freiluftzellen im Hof zu sehen und zu wissen, daß ein einfaches „Honnecker ist doof“ schon ausgereicht hat, hier eine halbe Stunde täglich verbringen zu dürfen.
Am Nachmittag dann kommunalpolitische Begegnung mit der alten/neuen Opposition in einer monströsen SED-Schule. Das Ambiente ist eher gespenstisch. Der Geist scheint ausgeflogen, aber die Materie ist noch da.
Engagierte Menschen geben wenigstens einem Raum ein wenig Leben zurück. Maurer, Pfarrer, StudentInnen und Arbeiter eine Mischung, die im Westen eher ungewöhnlich ist. Sie reflektieren ihre Lage ehrlich und klug. Die zentrale Erkenntnis der letzten Wochen: Demokratie muß man lernen. Und üben, üben, üben.
Wir erzählen unter anderem von selbstverwalteten Betrieben in Bonn. Und uns wird klar, wie lang der Weg dahin war.
17. 2. 90. Wieder ist Wochenende, wieder zieht es mich in den Osten. Und wieder einmal ist Besuch aus Westdeutschland da, der, wie alle, zum Brandenburger Tor gehen will.
Mit den Massen ziehts uns unter die Linden, weiter, Richtung Alexanderplatz. Westler allenthalben. Keine fünf Minuten halten sie es aus, ohne eine Bratwurst auf der Straße zu essen. Die Ostberliner stellen sich offenbar darauf ein. Die Fußgängerzone von Castrop-Rauxel ist überall.
Ich kaufe, also bin ich.
Darfs was Kulturelles sein? Der Kartenvorverkauf ist geöffnet. Brecht sitzt ausgestopft da rum. Von der Decke volkstümliche Klänge. Ausgelegt das Statut der Vereinigten Linken. Und massenhaft Westdeutsche, die dieses Verkaufsbüro viel schöner finden, als sie es der DDR je zugetraut hätten. So sauber. (So spießig.)
24. 2. 90. Die Schwiegereltern haben noch ein Haus im Osten. Wir sollen es mal fotografieren. Keine Pläne, zumindest keine gemeinen. Aber wer weiß. Der Lastenausgleich, den die Westregierung seinerzeit zahlte, könnte ja zurückgezahlt werden.
Die Bewohner im Ostberliner Vorort sind skeptisch, denn sie ahnen, was die Westler mit der Kamera wollen. Wir schleichen beschämt ums Haus herum - und knipsen doch.
25. 2. 90. Fete zum ersten Andruck der OstTAZ. Ein gigantisches und ein feuchtes Fest. Ein charmanter Ost-West -Reporter und dann noch Gregor Gysi - das Thema auf dem Frauenklo.
3. 3. 90. Anruf einer Freundin. Wollen wir zusammen ausgehen? Klar, gern, gehn wir rüber? Öhm, na gut, bringe noch drei aus Westdeutschland mit.
Ich kenne viele, die die Wochenenden in Ostberlin verbringen - die meisten gehen billig essen. Wir aber sind schon satt, als wir losziehen.
Da, ein schickes Cafe. So, meine Begleiter suchen also den Westen im Osten. Ich habe keine Alternative anzubieten, gehe mit.
Viel Platz ist noch frei. Wir sind zu fünft, die Stühle um den Tisch zu viert. Wir holen uns einen dazu. Hinter dem Tresen wird geschimpft. Wir müßten erst die Kellnerin fragen. Keine Kellnerin da. Also fragen wir den Mann, der protestierte, selbst. Der schnauzt uns an. Wir gehen.
Draußen dann die kritische Auswertung. Darf man hier so anspruchsvoll sein? Jetzt, da wir uns im Westen sowieso gerade alles einverleiben? Vielleicht war das sein Widerstand dagegen? Waren wir zu aufdringlich? Von außen gleich als Westler zu erkennen?
So ein Unfug, Unfreundlichkeit mit Selbstbewußtsein zu verwechseln.
Der Abend endet in einer sozialistischen Bar. Rotkäppchensekt und schottischer Whisky. Es reift der Entschluß, in Westberlin ein Bier zu trinken. Daheim ist es doch am schönsten. Sagen die anderen - und ich trotte hinterher.
Dabei platze ich vor Lust auf deutsch-deutsche Begegnungen.
Conny Sauer
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