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Zeitweise reformiert

■ Von den Holzbänken der Jahrhundertwende an die Gruppentische der frühen Siebziger: Die Ausstellung „Ideale Schule – ein gutgemeinter Versuch“ in Neukölln

So so, Sie können sich unter einer „idealen Schule“ also nichts vorstellen? Haben wohl früher auch vorzugsweise durch geistige und körperliche Absenz geglänzt, anstatt fürs Leben zu lernen. Macht nix. „Die ideale Schule“ ist eine Geschichts-Ausstellung. Mit Hilfe von Fotos, schriftlichen Quellen und anderem historischen Material versucht das Heimatmuseum Neukölln, Reformbestrebungen an den Schulen des traditionellen Arbeiterbezirks nachzuspüren. Der zeitliche Rahmen der Ausstellung reicht von der Jahrhundertwende bis in die frühen siebziger Jahre.

Dutzende Klassenfotos zeigen, wie es zuging an den Lehranstalten, die unsere Großeltern besuchten. Stocksteif, verängstigt, ernst bis zur Ausdruckslosigkeit schauen die Schüler in die Kamera. Der Lehrer war nicht nur Respektperson, er vertrat uneingeschränkte Autorität, war Zuchtmeister. Womöglich Sadist. Nicht umsonst erinnern die meisten Schulgebäude des Kaiserreichs an mittelalterliche Burgen.

Folgerichtig plante ein sozial hellhöriger Architekt wie Bruno Taut die Schule der Zukunft in den zwanziger Jahren als eine großzügige, lichte Abfolge von niedrigen Pavillons, umgeben von Sport- und Parkanlagen. Das Bildungszentrum Rudow-Buckow-Britz war die Keimzelle des Gesamtschulgedankens: 3.000 Schüler aus allen Gesellschaftsschichten sollten dort unterrichtet werden. Zwar wurde der Entwurf nie gebaut, doch gibt sein Modell Aufschluß über den damaligen state of the art in Sachen Schulplanung.

Auch die Veränderungen innerhalb der Klassenzimmer sind einigen wenigen engagierten Pädagogen zu verdanken. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen sich die Sozialisten Fritz Karsen, Konrad Agahd, Artur Buchenau und Philipp Lötzburger aus der Provinz nach Berlin versetzen, um neue Lehrmethoden durchzusetzen. Und noch etwas spielte eine Rolle bei der Entwicklung von Reformen: die seit 1919 per Beschluß des Bezirks mögliche Freistellung vom Religionsunterricht.

Schulen, an denen die Eltern von diesem Recht besonders regen Gebrauch machten, wurden zu Anlaufstellen für progressive Erzieher. 1923 gründete der Kunst- und Werklehrer Arthur Busse an der Walter-Rathenau-Schule die erste Theaterklasse. Ein Novum, das, wenn die alten Fotos nicht trügen, auf begeisterten Zuspruch stieß. An der Rütli-Schule, der ehemals bekanntesten Reformschule Berlins, wurden zwei Jahre später mehrtägige Ausflüge an die Ostsee eingeführt.

Dem bereiteten die Nazis, wen wundert's, nach ihrem Wahlsieg 1933 ein jähes Ende. Die Neuköllner Ausstellung präsentiert die germanische Götterdämmerung, die nun dräute, wie in einem Giftschrank. Nach 1945 wurde zögernd und meist nur in einem schalen Aufguß an die Reformbewegungen der Weimarer Republik angeknüpft – schließlich hatte man deren geistige Väter ins Exil vertrieben oder umgebracht. In den fünfziger Jahren machte das Schlagwort von der „Bildungskatastrophe“ die Runde. Erst die auf die Schulen übergreifende APO versetzte 1968 die alten Fundamente mit lautem Knall in Schwingungen. Reformen von unten waren nun angesagt. Zentrale Forderungen waren Mitbestimmung und Abschaffung der Zensuren. Plötzlich hießen die Schülerzeitungen Radikalinski oder Rote Fahne, statt Mathe, Franz oder Deutsch zu pauken, ging's auf die Vietnam-Demo. Punkt sieben der Tagesordnung: die Einrichtung von „Bumsräumen zur Selbstverwirklichung“. Ein paar Jahre darauf saßen die ersten 68er als Pauker in den Klassen. Die ersten, von offizieller Seite stets geleugneten Berufsverbote folgten.

An diesem Punkt bricht die liebevoll gemachte Ausstellung ab, nicht ohne uns ein paar Kuriositäten mit auf den Nachhauseweg zu geben: das bunte Hippie-Kleid beispielsweise – gekauft im ersten Indien-Import-Shop Berlins, eine echt selbstbestickte Umhängetasche aus Jeansstoff oder das Federmäppchen mit dem vergilbten Peace-Zeichen. Die „ideale Schule“, die unter anderem auch mit einem verwandelbaren Klassenzimmer und von Sozialtherapeuten der TU organisierten Workshops aufwartet, dauert noch fast ein ganzes Schuljahr lang. Ulrich Clewing

„Die ideale Schule – ein gutgemeinter Versuch“: bis zum 3. April 1994 im Heimatmuseum Neukölln, Ganghoferstraße 3, Mi. 12–20, Do.–So. 11–17 Uhr.

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