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Vom Typ her kein Cohn-Bendit

Kulturrevolutionäres ist seine Sache nicht, aber die Klischees vom „Jungen mit der Mundharmonika“ ärgern ihn: René Giessen aus Gießen ist der verhinderte Weltmeister der „Mundäoline“. Eine irgendwie deutsche Karriere  ■ Von Richard Laufner

Chromonika II – René Giessen huscht in Halbtonschritten drei Oktaven rauf und runter und legt die halbpfundschwere Mundharmonika mit dem seitlichen Chromatik-Knopf auf den Gartentisch zurück. „Die Mauern zwischen U- und E-Musik müssen eingerissen werden“, formuliert er überzeugt, aber eine Spur zu pathetisch für das beschauliche Ambiente der Bungalow-Siedlung in Gießens Vorort Petersweiher. Ein solches Programm haben schon viele formuliert. Zur Abwechslung ein Musiker, von dem das Hohner-PR- Info marktschreierisch verkündet, „der einzige weltweit reisende Mundharmonika-Solist der Bundesrepublik Deutschland“ zu sein.

„René Giessens Soundmachine“ heißt seine fünfköpfige Gruppe – ein völlig irreführender Name. Denn aufwendige Technik gibt es nicht, die fünf Musiker – allesamt am Gießener Stadttheater Orchester beschäftigt – spielen vollkommen unplugged, wie es neuerdings in der Rockmusik Mode ist. Die Besetzung: Englischhorn, Bratsche, Baßklarinette, Drums und vor allem Mundharmonika. Musikalisches Spektrum: hin und her zwischen Rock und „Klassik“, Jazz und Operette, Filmmusik und Schlager. Der Spiritus rector des Unternehmens, mit bürgerlichem Namen Rainer Gernert, ist eigentlich Soloklarinettist in besagtem 40köpfigen Orchester. Ein „Blasmusiker“ mit einer für Mundharmonika-Virtuosen angemessenen Biographie. Mit 14 war er um ein Haar ganz oben. Bei den Deutschen Meisterschaften der Hohner-Werke in Trossingen schlug Rainer Gernert seinen Lehrer im Solisten-Wettbewerb. Vom Weltmeistertitel trennt ihn nur die Tatsache, daß ausgerechnet in jenen Jahren keine WM stattfand.

Freddy, Lolita und Winnetou

1963 geht der 18jährige zum Musikstudium in jenes München, dem Edgar Reitz mit seinem zweiten Heimat-Epos jüngst ein filmisches Denkmal zu setzen versuchte. Aber Rainer gehört nicht zu den sensiblen Rebellen, die Münchner Avantgarde um Stockhausen, Biallas, Isang-Yun bleibt ihm fremd. „Ich wollte aus der Harmonika- Welt raus und Mozart, Beethoven und Gershwin im Original spielen“. Ausstieg aus einer kleinbürgerlichen in die reputierliche E- Musikwelt. Aber während des fünfjährigen Klarinetten-Studiums bricht er keineswegs mit der Harmonika-Szene. Wer heute in seinem abgegriffenen grünen Foto- Album blättert, hat ein Who's who der damaligen Unterhaltungsmusik in der Hand. Vom Mundharmonika-Intro bei Hildegard Knefs „Ich hab Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ bis Freddies „Seemann, weit bist du gefahren“, Ralf Bendix bis Lolita, Maigret bis zu den Winnetou-Filmen – an der Mundharmonika: Rainer Gernert.

So fremd wie die Avantgarde waren ihm auch Bob Dylans provozierend-spröde Mundharmonika-Klänge oder der Einzug dieses Instruments in die Rockmusik. „Ich war vom Typ her kein Cohn- Bendit, eher angepaßt.“

Auch 1968 keine Kulturrevolution, sondern der Gang ins provinzielle Orchester-Kloster einer 70.000-Einwohner-Stadt namens Gießen. Für den Newcomer in Konzert, Musical und Operette folgten Jahre, in denen er Orchesterroutine bekommen wollte. Als Schlagersänger Bernd Clüver Anfang der 70er Jahre dem „Jungen mit der Mundharmonika“ seine Aufwartung machte, ärgerte sich Gernert nur kurz über das schnulzige Klischeebild. Die eigenen „Mundharfen“ des beschäftigten Orchestermusikers verstaubten zu der Zeit im Schrank.

Seine Art „Revolte“ erfolgte verspätet: Mit der „Soundmachine“ begann er im letzten Jahr eine verblüffende kammermusikalische Surftour: Von Ricercari aus dem 16. Jahrhundert über Mozarts Glasharfen-Adagio, eine auf 5 Minuten verdichtete Fassung von Ennio Moricones Filmmusik „Spiel mir das Lied vom Tod“, Giselher Klebes speziell für die Soundmachine komponierten „Tango irregulare“ bis zu atonalen Klangmalereien. Ganz unbekümmert jagen die fünf in 1:37 Minuten auch durch die „Virtuosen-Polka“ von Gerhard Winkler (Caprifischer, Chiantiwein). „Das macht uns weltweit so schnell keiner nach“, grinst der Combo-Chef und Hobby-Hammerwerfer, der seinen Musiksportsgeist seit dem in der Jugend entgangenen WM-Titel nicht abgelegt hat.

Trossingen-Komplex

Gravitationszentrum für alle Mundharmonikaspieler weltweit: Hohner in Trossingen, 12.000-Seelen-Stadt im Schwarzwald. Als Marktführer und quasi Monopolist, steht Hohner als Synonym für Mundharmonikas. Von den Plastik-„Teddys“ für die Kids über die konzerttauglichen Chromonicas bis zur Bluesharp, die längst zum internationalen Bestseller avanciert ist. Hohner-Konservatorium, Hohner-Verlag, die Weltmeisterschaft, die nach 1989 dieses Jahr wieder Mitte September stattfindet, „Musik- und Kreativreisen“ mit Harmonika-Unterricht in die Türkei und nach Griechenland, Mundharmonika-Unterricht, die Harmonika-Verbandsarbeit und eine Vierteljahreszeitschrift Harmonika-International in 30.000er Auflage, die von Musiker-Porträts über technische Innovationen, Notenbeilage, Kleinanzeigen bis hin zu „Ganz in Weiß“-Heiratsgratulationen die internationale Hohner-Gemeinde zusammenhält. Ein Verbund-Unternehmen, das niemanden so leicht losläßt.

Firmengründer Matthias Hohner setzte schon 1857 auf Export nach Übersee – die Schiffsladungen an Mundharmonikas, die in die Vereinigten Staaten gingen, sorgten für die spätere Vormachtstellung der Trossinger. Und dafür, daß bei der Weltmeisterschaft neben traditioneller Harmonikamusik im „Alten Krug“ auch „Late Night Sessions Blues und Rock“ stattfinden, bei den Gala-Konzerten auch Blues-Virtuose Steve Baker und die Jazzlegende Jean „Toots“ Thielemanns sich die Ehre geben. Mit von der Partie in einem „Special Concert“ natürlich auch die Soundmachine René Giessens, der auch in der obersten Jury sitzt. „Da schließt sich der Kreis“, sinniert Gernert/Giessen. „Aber ich bin kein Endorser von Hohner“, wehrt er sich gegen den Vorwurf der Vereinnahmung. Aber natürlich wird seine Musik als Hohner-CD verlegt, setzen die Trossinger auf seine wachsende Popularität, nachdem die alten Kämpen wie Toots Thielemann, Tommy Reilly und Larry Adler in die Jahre gekommen sind.

Liebe Kameraden

Für „Gathy's Musikalisches Conversationslexikon“ stand schon 1840, knapp zwei Jahrzehnte nach Erfindung der „Mundäoline“ durch den Berliner Tüftler Friedrich Buschmann fest: „Mundharmonika ... ist eine jetzt gewöhnliche Spielerei und gräulichste der Ohrenplagen.“ Immer buhlten die Harmonika-Spieler um Reputation im etablierten Musikbetrieb, kämpften sich durch Mozart-, Beethoven- und Bach-Bearbeitungen, gaben die Produzenten ihren Instrumenten Namen wie „Fidelio“ und „Amadeus“ – vergeblich. Den Instrumenten haftet die vielbespöttelte Volkstümlichkeit an und jene Wander- und Heimat- Gefühlsseligkeit, auf die Absatzstrategen auch setzen mußten.

Für René Giessen mittlerweile kein Problem mehr. Mozarts Glasharfen-Adagio spielen die Musik- Profis der Soundmachine nicht aus Reputationssucht, sondern weil die Glasharfe als seinerzeit populäres Instrument der noch nicht erfundenen Mundharmonika so ähnlich ist. „Klar, Beethoven und Mozart hätten auch für dieses Instrument Stücke geschrieben“, behauptet René Giessen. So wie es in neuerer Zeit Komponisten der E- Musik wie Oskar Gottlieb Blarr, Fried Walter oder Giselher Klebe getan hätten. Der Vergleich zeugt von munterem Selbstbewußtsein.

„Chamäleon“ wird Giessen auch in Trossingen schon mal genannt. Stilistisch ist er so wandlungsfähig wie das Instrument in puncto Zeitgeist. Dafür sorgten die Instrumentenbauer und vor allem Werbeplaner und Designer. Die nannten einst die musikalische Begleitung für die WK-1-Soldaten „Sieg und Heil“, „Wacht am Isonzo“, zierten eine Mundharmonika-Schachtel vorschnell mit „Unseren Helden – Die Fürsten der Sieger“ oder boten Mundharmonikas in Form populärer Kriegsschiffe an. „Horst Wessel – SA marschiert“ stand auf dem dunkelblauen Klappetui des Modells „Unsere Lieblinge“ dreißig Jahre später. Da titelte die Hohner-Werkzeitung schon mit Göring-Zitat und Hakenkreuz, förderte der NS-Staat das Hohner- Monopol und versuchte, aus der Harmonika-Bewegung propagandistischen Nutzen zu ziehen. Zwangsarbeiter aus dem Osten waren bei Hohner schon überwiegend mit Rüstungsproduktion beschäftigt, und die Hohner-Werbeabteilung propagierte zeitgemäß: „Die Harmonika ist dem besten Soldaten der Welt in großer Zeit ein lieber und unentbehrlicher Kamerad geworden.“

Die NS-Indienstnahme des geschätzten Instruments will René Giessen nicht uneingeschränkt gelten lassen: Immerhin habe es in der Reichsjugendführung einen Befehl gegeben, mit dem ein „Verbot der Gründung von Mund- und Handharmonikaorchestern innerhalb aller Formationen der HJ“ verhängt werden sollte. Und – musikalisch noch beweiskräftiger – das Diktum des Reichsjugend-Musikreferenten Wolfgang Stumme. Der hielt Harmonikas nur für die „leichte Muse“, nicht aber für „kultisches Liedgut“ verwendbar.

Adorno, der Sympathie für Annäherungen zwischen E- und U- Musik unverdächtig, hätte dem gefühlsselig einsetzbaren Instrument vielleicht „erpreßte Versöhnung“ attestiert, kaum aber die Eignung zum Erhabenheits-Kult. Insofern hat René Giessen recht. Die große Geste liegt dem Instrument nicht. Deshalb überzeugen aber auch Werke für Mundharmonika und Orchester selten. Etwa die „Masterworks“ eines Fried Walter, abtrünniger Schönberg-Schüler und späterer U-Musik-Abteilungsleiter beim RIAS-Berlin, die René Giessen zusammen mit dem Kölner Rundfunkorchester eingespielt hat. Verlegt natürlich bei Hohner.

Gießen, hier Giessen

Warum wählt jemand seinen Künstlernamen nach einer Provinzstadt, die nicht gerade durch städtebaulichen Liebreiz überzeugt? Es war eher ein Zufall, gewiß aber keine Heimattümelei. Eher ein Kompliment an den etwas spröden Charme der Mittelhessen-Metropole, die mit dem City-Fußgängerübergang namens „Elefantenklo“ ihr populärstes Wahrzeichen hat. Immerhin tauge das zum Anbringen von Plakaten. Hier gibt es eine sehr lebendige Jazz-Szene, und im Keller bei Gernerts experimentiert Sohn Marc, 23, mit Popmusik und Musikbusiness. Im Privatsender FFH avancierte er vor einiger Zeit mit einem Song an die Spitze der Hitparade. Titel: „Gießen, hier Gießen.“

Vater Rainer ist dankbar, daß „die Stadt mich vor 25 Jahren aufgenommen und mir einen Arbeitsplatz gegeben hat.“ Jetzt wird er bei Soundmachine-Auftritten ihr Werbeträger. „Chamber Pop Quintett“ nannte man jüngst bei einem Auftritt in der deutschen Botschaft in London seine Soundmachine. Und Yehudi Menuhin und Sir Colin Davis parlierten anerkennend mit dem Ober-Maschinisten. Bei einer Ferrari-Gala in Wiesbaden spielte der jüngst Ennio Morricones „Lied vom Tod“ – plauderte mit Niki Lauda und stieg anschließend in seinen alten Audi 80, mit einer Summe, die am Stadttheater (Monatsgehalt 4.300 DM) in der Zeit kaum zu verdienen gewesen wäre. Bei der WDR-Talk- Show „Mittwochs um acht“ sorgt die Soundmachine exklusiv für die thematisch passende Musikbegleitung. Auftritte bei der Villa-Lobos-Gesellschaft in New York, dem Schleswig-Holstein-Musikfestival und bei den Salzburger Festspielen stehen an. Das Erfolgsgeheimnis der Musik? Daß sie ohne Geheimniskrämerei daherkommt, sich aber mit gewitzter Selbstverständlichkeit vieler Musikkulturen bedient. Ohne bloß Multikulti-Folklore zu sein oder Bildungsbeflissenheit zu demonstrieren. Nur so kann die „Chromonica“ einen akzeptablen Part spielen.

Eigentlich ist René Giessen selbst ein wenig verblüfft, wie man sich jetzt wieder um ihn reißt. Der kaum 1,70 Meter große Musiker mit Glatze und Popeye-Bart trägt's mit unbekümmerter Wuseligkeit – ob im Frack oder der geliebten Jeans-Jacke und umgekrempelten Levis-Hosenbeinen. Von Freddy, Winnetou, Verdi und Beethoven – zur Soundmachine, das fördert eine gewisse Abgeklärtheit. Und ermöglicht auch einen Rest Skepsis gegenüber solchen Grenzgängen. René Giessen: „Da ist der Weg zwischen Erhabenem und Lächerlichem nämlich nur ganz kurz.“

René Giessen spielt morgen, 18.9., im Rahmen der Trossinger Mundharmonikaweltmeisterschaften, die Sonntag zu Ende gehen. Nähere Informationen unter 07425/20383.

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