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Blechnapf und Coca Cola

■ Uraufführung: „Moskauer Nächte“ im Schmidt's Tivoli

„Beim Morgenrot im Kreml atmet es sich leichter als auf der ganzen Welt“, schwärmt der Moskauer ARD-Korrespondent Thomas Roth vom Band. Dann öffnet sich der mit Hämmern und Sicheln verzierte Vorhang, und das Publikum findet sich vor der Metrostation Dzerzinskaja mitten in der russischen Hauptstadt wieder. Im Moskauer Zirkus, aus dem die Artisten der am Donnerstag im Schmidt's Tivoli uraufgeführten „Moskauer Nächte“ kommen, scheint nicht nur das Atmen leichter zu fallen. Das Varietéprogramm ist ein Feuerwerk an Energie; mitunter werden, so scheint es, Naturgesetze überlistet.

Doch die „Moskauer Nächte“ sind keine bloße Kette artistischer Höchstleistungen: Unter Verzicht auf einen Conférencier werden die Nummern durch einen erzählerischen Rahmen miteinander verbunden. Die Artisten sind gleichzeitig Schauspieler in den dargestellten Straßenszenen. Die durchchoreographierte Show symbolisiert das Nebeneinander der Kräfte im heutigen Rußland. Da gibt es einen Jugendlichen mit Ghettoblaster, reiche Geschäftsleute und arme Passanten, einen Mafioso, Huren und einen General. Dabei ist die Erzählung so überschwenglich, daß für Nöte und Ängste kein Platz ist. Statt dessen wird Lebensfreude pur übermittelt, in zwangloser Verbindung von Blechnapf und Coca-Cola.

Musikalisches Bindeglied ist eingängige Jazz-Musik, arrangiert vom russischen Jazz-Papst George Geranjan. Auch sie verbindet Osttradition und Westeinflüsse; wie selbstverständlich folgt Michael Jackson auf „Kalinka“. Die artistischen Nummern entsprechen dem Weltruf des russischen Zirkus. Egal, ob die Gruppe Moissejewy mit der russischen Stange halsbrecherische Sprünge bis zwischen die Deckenscheinwerfer unternimmt oder Anatol Yewpjatjew zwischen zwei fahrenden Einrädern hin- und herspringt, dem Publikum stockt der Atem. Das Ganze wird mit Showtalent keck und clownesk vermittelt. Nur Sergej Ignatow schafft es nicht, mehr als ein Weltrekord-Jongleur zu sein. Zwar wirft er die Keulen, bis einem schwindelig wird, doch setzt er sich trocken und arrogant vom fröhlichen Ensemble ab.

Das beste an den „Moskauer Nächten“ sind die Clowns. Ausgesprochen witzig das magische Clowns-Duo „Cube Triue“, farbenfroh und hintergründig die fünf „Micos“, melancholisch und grell, weltklasse. Wenn auch Regisseur Haas entgegen seinem Versprechen das gegenwärtige Lebensgefühl der Russen nur sehr abstrakt vermitteln konnte: das Programm schlägt einen neuen Weg fürs Varieté ein. Ein gelungenes Spektakel. Werner Hinzpeter

Bis 16.10., Di - Sa 20 Uhr, So 19 Uhr, samstags (außer heute) 15 Uhr

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