: Peter
Auswilderung eines Pechvogels ■ Von Gabriele Goettle
Von den schätzungsweise 950.000 wohnungslosen Bürgern Deutschlands leben etwa 40.000 auf der Straße. Zwei Drittel von ihnen sind nicht krankenversichert, ein Teil davon nimmt keinerlei staatliche Hilfsmittel in Anspruch, einige sind nicht einmal mehr im Besitz von Papieren zum Nachweis ihrer Identität. Sie sind recht- und obdachlos.
Merkwürdig eigentlich, daß ein derart altes Wort wie Obdach bis heute in der Amts- und Umgangssprache verwendet wird. Was soll das eigentlich sein, ein Obdach? Das Wort stammt aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen und bedeutete soviel wie Überdach, schützendes Dach. Aber was bedeutet es uns heute? Ist ein Obdachloser, der unter dem Flugdach eines Supermarktes neben den Mülltonnen schläft, nicht mehr obdachlos? Oder andersherum gefragt, würde ein Eigenheimbesitzer sein Haus ein schönes Obdach nennen? Auch ist bei den „eigenen vier Wänden“ nie vom Dach die Rede, es versteht sich von selbst, daß die drinnen eines über dem Kopf haben. Für den Besitzlosen aber, der zur Miete wohnt, wird die Hülle zwischen dem Innen und Außen dünn und jederzeit zerreißbar. Man hat ein provisorisches Dach über dem Kopf, ein Zuhause, ist wohnhaft. Zum Obdach aber wird es erst im Moment seines Verlustes, in Form der Obdachlosigkeit ihres ehemaligen Bewohners. Das Obdach selbst gibt es gar nicht, es ist eine Phantasmagorie.
Peter hat keinen Internetzugang, kein Fernsehgerät, keine Wohnung. Er besitzt weder Krankenschein noch Personalpapiere. Der Eisenbahnersohn war früher Hilfsarbeiter, zuständig für schwere Lohn- und Schmutzarbeiten aller Art. Physisch und psychisch ramponiert von seiner miserablen Klassenlage und den Folgen, arbeitet er sich mit ungeheurer Energie auf der Abfallseite unserer Luxusgesellschaft voran, wie ein Maulwurf, still und ungesehen.
Es ist früher Vormittag, blauer Himmel, beginnende Hitze. Im Schatten vor der Kirche versammeln sich die Härtefälle, um die eine alte Frau mit schwarzem Spaniel einen großen Bogen macht.
Peter: (macht schnalzende Geräusche mit der Zunge Richtung Hund) Ich hab' die einfach gern, die Hundchen.
Mutter: (zahnlos nuschelnd) Ich hatte 'nen Königspudel, 13 Jahre lang. Da hängt man dann an so 'nem Tier, wa? Eene Woche hab' ich nischt jefressen, nur, daß ick Futter koofen konnte! Jetzt isser schon lange abjenippelt, aber zu fressen hab' ick immer noch nischt!
Peter: Ich würde auch gern 'nen Hund haben, aber bei mein Leben? Ich weiß ja noch nich mal, wo ich in der Nacht schlafen tu, ob ich morgen noch lebe, so ein Tier braucht seine Ordnung!
Mutter: Der Hund verträgt das schon, draußen schlafen, der hat doch 'n Fell.
Peter: Aber ich nich, ich kann die Verantwortung nicht übernehmen, für keinen Menschen, für keinen Hund, auch nich für mich.
Mutter: Ach wat! Wenn ick mit mein Königspudel vom Trimmen kam, das hatte ick mir ooch vom Munde abjespart, da ham alle jekiekt, so scheen war der.
Peter: Nee, ich kann die Verantwortung nicht übernehmen... früher, ja, das war was anderes, da hab' ich sogar Frau und Tochter gehabt... weg, alles weg!
Mutter: Ick hab' ja meinen Kleenen, meinen Sohn, zum Glück! Haste mal wat zum Roochen, zufällig?
Peter: Nee, mir pfeift selber schon der Ast den ganzen Morgen
Ein Humpelnder mit Krücke kommt, etwa Mitte sechzig.
Mutter: (leise) Dem hamse sein Bein versaut, beim Najeln, nu isset kaputt.
Peter: (zieht sein Hosenbein hoch und zeigt eine frisch verkrustete Wunde) Bin hingefallen, voll mit dem Schienbein gegen die Rolltreppe, (macht eine bechernde Handbewegung) blau war ich, die machen mich ja immer besoffen, die andern, mir schmeckt's schon gar nich mehr, ich muß mich richtig überwinden, trotzdem, immer rin! Statt daß sie mir mal 'ne Schokolade geben tun, nee, immer nur der Scheißalkohol.
Mutter: Ick trink so wat nich, rühr' keinen Tropfen an, det hab' ick bei meene Mutter jesehn, wo det hinführt. (Sie steht auf und eilt zu einer jüngeren Frau, die raucht.)
Peter: Ich weiß ja auch, wo das hinführt, aber was soll ich machen? Die geben mir immer...
Ein alter Mann mit etwas schmuddeligem Jackett, Blindenbinde am Ärmel, tritt vorsichtig näher, stochert mit seinem Stock im Boden und schaut durch das stark getönte Glas seiner Brille auf Peter.
Peter: Der gibt mir auch immer zu saufen, schon heute am frühen Morgen, hat er mir 'nen Klaren gegeben, da, der Blinde, der schiefe Hund!
Blinder: (kichert meckernd) Mußt ja nicht, warum schluckst du's denn?
Peter: Ja was hab' ich denn sonst noch vom Leben? (weinerlich) Manche haben alles, ich habe gar nichts! Ist das gerecht?
Blinder: Du bist doch selber schuld!
Peter: Schuld, schuld, davon kann ich mir nichts koofen! Ich hab' nich mal Papiere, die sind weg, geklaut. Ich kann mir nicht mal 'nen Pfennig vom Amt holen, ohne Papiere. Und Stütze gibt's schon gar nicht ohne polizeiliche Anmeldung... Beim Blinden, da kann ich mich auch nicht anmelden, das will er nich, höchstens darf ich mit ihm mitfahren, für umsonst, als Begleitperson...
Blinder: Ich darf keine Untermieter haben, so steht's im Mietvertrag, ich riskier doch nich meine Wohnung... Er muß ja nur hin, zur Polizei, mit Bildern. Die werden beglaubigt, dann gibt's einen behelfsmäßigen Ausweis, der kostet zehn Mark, und in einem Vierteljahr gibt's den richtigen Personalausweis, das kostet 25 Mark. Dann kann er sich im Obdachlosenasyl anmelden und Sozi beziehen. Allein darauf kommt's doch an! (Er stampft mit seinem Stock auf.) Ich hab' ihm das schon so ville gesagt, dem Penner, aber er will ja nicht, sagt immer nur: Ich komm' allein zu Rande.
Peter: Komm ich ja auch!
Blinder: Und was is mit deinen abgefrorenen Zehen?
Peter: Meine Zehen sind meine Sache! (Stolz) Ich hab' vergangenen Winter bei -10 Grad unter meinem Bauwagen gelegen, bevor ich ins Asyl gehe und mir Läuse und Fußpilz holen tu, da erfrier ich lieber auf der Straße.
Blinder: Du spinnst doch. Ich war lang genug obdachlos, nie hab' ich mir was geholt. Du kommst in keine Notübernachtung rein ohne Läuseschein. Und du mußt ja auch nicht dauernd rein, einen Tag mußt du für die Anmeldung da sein. Er geht einfach am 3. Tag hin, abends um zehne, legt sich hin, schläft sich aus und haut morgens wieder ab für den Rest der Woche.
Peter: Nee, lieber schlaf' ich draußen, das is nichts für mich, die ganzen Käsemauken und das Geschnarche die ganze Nacht, außerdem ist man seines Lebens nicht mehr sicher, jetzt, seit neuestem zünden sie auch Obdachlosenasyle an in der Nacht! Da hätte ich keine ruhige Minute.
Blinder: Und im Jahn-Park, was war da? Da ham sie 'nen siebzigjährigen Penner mit Petroleum überschüttet und angezündet!
Peter: (ärgerlich) Das ist doch schon ewig her, du willst mir doch nur Angst machen, aber das zieht bei mir nicht!
Blinder: (im Gehen) Mach doch, was du willst, du Dickschädel, du Pechvogel!
Peter: (sich zu mir wendend) Der gibt an wie 'ne Lore Affen! Jahn- Park is gut, die ganze Hasenheide ist ja groß genug für alle, und wenns regnet, hab' ich so blaue Müllsäcke, so große, die hab' ich mir organisiert, da kriech' ich rein mit meinen Sachen, fertig. Alles schön trocken. Zwei Säcke hab' ich (Stöhnt auf und macht ein schmerzverzerrtes Gesicht) Au weia, die tun heut weh, die Beene... aber ins Arztmobil geh ich lieber nicht, höchstens hole ich mir zwei Schmerztabletten. Mein Vater hat immer gesagt: Wat von alleene kommt, jeht ooch von alleene wech! (Er reibt sich die Füße durch die dünnen Turnschuhe hindurch) Schon besser, siehste. Jahn-Park, da war früher, vor der Wende, nichts los, heut' is die Hasenheide voll mit so 'ne Leute, will mal so sagen, mit den ganzen Ausländern, den Illegalen, da sind Neger aus Afrika, Zigeuner von Rumänien oder so, Polen, die tun alle schwarz malochen irgendwo und ham keine Bleibe. Aber die sind immer ganz unter sich, höchstens es regnet mal wie aus Zubern, dann stellen sich alle beim Kiosk unter. Nur ich, ich lieg' gemütlich in meinem blauen Müllsack, da können Leute vorbeikommen, an meinem Versteck, ich seh' die, aber die sehen mich nicht, so weit runter reichen die Zweige, wie beim Weihnachtsbaum. Nur die ABM-Brigaden kennen meinen Platz, die morgens um sechse immer anrücken. Das sind alles Arbeitslose, die pflegen den Park und machen den Müll weg. Die kennen mich schon und lassen mich in Ruhe. Schön sauber isser, der Jahn- Park, viel sauberer als der Tiergarten, wo ich früher mal geschlafen hab'. Und weißte, das is ja mein Kiez hier, von Kindesbeinen an. Ich kenn' hier alles in- und auswendig.
Ich bin rumgestiegen in der Hasenheide auf dem Trümmerfeld als Knirps. Haste das mal angeguckt, das ganze Areal? Na, da is ja, vom Columbiadamm aus gesehen, rechts vorn zum Hermannplatz, das Jahn-Denkmal, da steht er oben, auf seim Sockel, der Turnvater, und unten stehn die Rauschgifthändler und Drogensüchtigen. Da is auch das öffentliche Klo, wo ich immer mein Wasser holen tu und denn links vorn, zum Südstern zu, is der Friedhof von der katholischen Kirche, die heißt St.-Blasius-Basilika, früher war das einfach Garnisonskirche und Garnisonskirchhof. Und dann gibt's noch einen Teich und einen Berg, in der Mitte mehr, die Rixdorfer Höhe. Das is teils künstlich, drunter liegen da in der Hasenheide überall Trümmer, von den Bombenangriffen damals im Krieg, von den kaputten Häusern. Drum steht ja auch das Denkmal dort von der Trümmerfrau, die hamse jetzt mit Farbe vollgekleckert, so Lümmels, die sich da immer rumtreiben tun.
Und noch was is da, davon siehste heute gar nichts mehr, eine riesige, riesengroße Bunkeranlage, da is alles unterkellert, es gibt Tunnel, die reichen vom Hermannplatz bis zum Columbiadamm und rein in den Flughafen Tempelhof, so Fluchttunnel warn das, und in den ganzen Bunkern, da gab's so große Hallen, daß sie die ganzen Flugzeuge reinfahren konnten. Spielen durfte man als Kind da gar nich, wir sind aber trotzdem hin. Die Amis haben das aber alles
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dann ganz schnell zugemauert und dichtgemacht. Sprengen ging ja nicht. Die wollten ja alle Bunker sprengen nach dem Krieg, war aber nicht, so ham sie überall erst mal Verwundete reingetan, dann waren's Flüchtlinge, dann Obdachlose. Lange ging das so, überall. Ich hab' mich immer am Flughafen rumgetrieben, hab' sogar mal gesehen, wie ein Flugzeug abgestürzt ist, da war ich acht Jahre. Bin 1936 geboren. Nee, Flughafen Tempelhof, das hat mich immer angezogen, die Rosinenbomber alle, ich war sozusagen bei, als sie das Luftbrücken-Denkmal da, die Hungerharke, aufgestellt haben. Und Tempelhof erinnert mich auch an meine Schandtaten. Na, ich hab' so einiges auf dem Kerbholz, kannste dir ja denken, nich. Ich sag's ja ungern, aber wegen dem Flughafending war ich im Knast. Das war das längste an Knast in meinem Leben, die vier Jahre, die ich einsitzen mußte im Zuchthaus Tegel. Das war... eh... 1960 war das.
Wie das kam? Sag' ich dir gern, zu blöd war ich, um nein zu sagen. Na, ich hatte da einen kennengelernt, inner Kneipe, da war ich ja schon tätowiert, vom erstenmal. Daran hatte der gleich erkannt, daß ich... Er hat mich eingeladen, zum Trinken, nach 'ner Weile fragt er, ob ich für 800 Mark ihm 'nen kleinen Gefallen tu. Das war damals ein Haufen Geld, isses ja heute auch noch, für mich. Ich sag', ja, laß mal hören, aha, na gut. Das war mein Fehler. Der hatte da gearbeitet auf dem Flughafen, der kannte sich aus. Da war dann also dieser Zaun, den hat er ratsch- ratsch mit der Seitenschere aufgemacht und ich rin. Innen war so ein Flachbau, da bin ich rein und hab' das alles rausgetragen, was er mir gesagt hat, das ganze elektronische Gerät, so Sachen für Flugzeuge und Computerteile, so was. Ich immer hin und her, er draußen vor dem Zaun, hat alles entgegengenommen. Das war kinderleicht. Kein Mensch war zu sehen vom Sicherheitsdienst. Ich bekam meine 800 Mark und jeder ging seiner Wege. Paar Tage später kam die Kripo, ich wohnte damals bei meiner Schwester, und hat mich verhaftet. Daß da in dem Häuschen eingebaute Kameras waren, das hat der mir nicht gesagt, das hat mir die Kripo gesagt. Sie ham mich mit den Bildern gekriegt, mit Anfassen war ich ganz vorsichtig, weil ich ja vom erstenmal her in der Kartei war, durch die erkennungsdienstliche Behandlung, weißte, das machen die so, Fotos von hier, von hier, von hier und jeden Finger einzeln in schwarze Farbe und abrollen. Nu hatten sie mich am Arsch, ham mich nach meinem Komplizen gefragt, wem ich die Ware übergeben hab'. Ich sag', ich kenn den nicht, ein Fremder. Der war da und war wieder weg. Da ham sie mich in den Flughafen gebracht, zur Gegenüberstellung. Ich mußte an drei langen Reihen mit Leuten vorbei und in der zweiten, da war er beigewesen, denke mal. Ich hab' das Gesicht nicht bewegt und bin an ihm vorbeigegangen, kein Wort hab' ich gesagt. Ich scheiße keinen an! Obwohl, im Zuchthaus, die Kumpels nachher, die ham zu mir gesagt: Peter, das Schwein hätt'ste anzeigen sollen, der hat dich reingelegt, der wußte das mit den Kameras, deswegen hat der dich ja reingeschickt, du sitzt für den im Knast! War mir ja klar, trotzdem, ich zeige keinen an! Da saß ich vier Jahre, rin kam ich mit 24, raus mit 28.
Und das letztemal im Knast war ich 1980, im Winter. Vierzig Tage, für Schwarzfahren. Der Richter hat kurzen Prozeß gemacht mit mir, der wollte gar nicht hören, was ich sage, der guckte in die Akte, aha, schwer vorbestraft, 800 Mark Strafe oder 40 Tage Haft. Merkste was? Die 800 Mark verfolgen mich. Ich sagte: Herr Richter, wenn ich 800 Mark hätte, dann tät ich nich Schwarzfahren. Der hat mich keines Blickes mehr gewürdigt. Für den war ich ein Fliegenschiß. Aber was soll ich dir sagen, das war eine Erholung für mich, der reinste Luxus. Alles sauber und geheizt, gutes Essen, frische Wäsche und dann gab's auch noch Taschengeld! Ich wollte gar nicht mehr weg, am Ende, draußen war's ja lausekalt, und ich, kein richtiges Obdach und nichts. Bei der Entlassung ham se mir gesagt: Im Kittchen ist kein Zimmer frei!, wie in dem Film da, kennste doch. Ich sag' mir, nächsten Winter klau ich 'ne Pulle Schnaps und fahr 'ne Woche von morgens bis abends schwarz, die wer'n mich schon erwischen. Bis dahin bleib' ich in der Hasenheide, in mein Jahn-Park.
Hab' ich dir schon erzählt, daß nachts immer ein Hund kommt? Ein ganz kleiner, wilder, der ist irgendwie ausgesetzt. Jetzt hab' ich ihn schon ganz zahm gekriegt, mit meine Brötchen. Auf 'nen halben Meter kommt er ran. Aber anfassen is nich. Ich nenn ihn Fiffi, da hört er drauf. Wenn er kommt, so um eins, zwei rum, seh ich ihn schon von weitem, an seine hellen Flecken. Er is so schwarzweiß. Das erstemal, wo er gekommen is, bin ich aufgewacht, weil da was raschelt. Da hatte der meine Tüte geklaut, ein Stück weggeschleppt und aufgebissen. Waren meine Brötchen drin und Socken, frische. Mann, hatte der Hunger. Ich hab' zugeschaut und nichts gesagt, da dachte er, ich schlafe. Komisch, zu mir kommen immer die Tiere. Vögel auch. Wo ich bei Reichelt geschlafen habe, hinten auf der Treppe, da kamen immer Katzen an, kamen die Treppe hochgeschlichen und ich hab' sie gefüttert. Die merken das gleich, wenn man was abgibt. Meinem Hundchen, dem bring' ich sogar meine Bouletten mit, die ich kriege in der Kirche, die kriegt der. Und dann fülle ich mir doch immer meine Flasche mit Wasser abends im Klo, für nachts, da kriegt er dann auch immer was von ab. Da mach ich so 'ne Beule in die Plastiktüte, tu Wasser reingießen und das trinkt er dann aus. Und ich sag' dir was, gestern sitz' ich auf der Bank bei Aldi, sag' gar nichts, da kommen vier junge Leute vorbei: Die haben mir anderthalb Liter Eistee geschenkt und noch eine große Selter, die war sogar noch zu. Einfach so. Und neulich hab' ich im Park, mitten auf dem Weg, so 'nen kleinen Radio- Cassettenrekorder gefunden mit Kopfhörern und Kassette drin, is so 'ne moderne Musik drauf. Manchmal hör' ich nachts damit Radio, man kann ja kaum einschlafen bei der Hitze. So, jetzt geh' ich ein wenig rein, wegen der Predigt, weißte, das tut mir immer so gut, das is was fürs Herz. Genauso wie die Musike!
Eine Woche später.
Zur gleichen Zeit an derselben Stelle. Peter hat ein frisches rotes T-Shirt an, der Kaiser-Franz-Josef-Bart und das schüttere Haar wirken gewaschen. Erstaunlicherweise riecht Peter nicht, weder gut noch schlecht. Er hat eine schwere Tasche mit Schultergurt dabei, eine dieser Taschen mit den vielen Reißverschlußfächern, die exakt so konzipiert sind, daß sie beim Flug noch als Bordgepäck durchgehen.
Peter: (sucht in seiner Tasche) „Ich habe noch ein halbes Brötchen von gestern, mit Salami drauf. (Er beschnuppert das Brötchen und beißt dann hinein, kaut lange, wegen fehlender Backenzähne) Du hast den Blinden wohl auch nicht gesehen? Dachte ich mir. Irgendwas stimmt da nicht. Ich wollte ihn abholen am Morgen, das war so abgemacht, um sieben war ich da, dann bin ich um acht noch mal dagewesen, wieder geklingelt, nichts. Drinnen brannte Licht, erst dachte ich, isser im Bad vielleicht, hört nichts, aber 'ne Stunde? Um halb neun bin ich dann zum drittenmal dagewesen, geklingelt, nichts. Vielleicht isser tot, der is ja schon 83. Nachher geh' ich noch mal hin, wenn er nich kommt, wenn wieder nix is, ruf' ich die Feuerwehr an. Ich hab' ja auch noch Sachen in seiner Wohnung, meinen dicken Schlafsack und meine schwarze Lederjacke, 'ne warme Hose. Was mach' ich denn nun, wenn dem schiefen Hund was zugestoßen ist? Erst warte ich mal ab.
(Peter stochert mit dem Fingernagel des kleinen Fingers in den Zähnen und wendet sich von mir ab.)
Weißte übrigens, daß ich umgezogen bin? Nachdem mein Hundchen nich mehr gekommen ist, eines Nachts, hab' ich noch ein paar Tage abgewartet und bin dann von meinem Platz weg. Die Leute erzählen, daß da Hundejäger in der Hasenheide waren, von der Polizei, vielleicht ham sie ihn erwischt? Jetzt schlaf' ich hinter dem Supermarkt. Da sind so, ich will mal sagen, große Wannen, Container, wo sie die ganzen Pappen reinpacken. Da drin schlaf' ich. Ich zieh' mich nackend aus, meine Sachen häng ich auf, zum Lüften. Meine Zudecke muß ich aber immer mitnehmen, sonst ist sie weg. Im Container isses zwar ein bißchen heiß, dafür liege ich aber gut, auf den Pappen, und trocken isses auch, drüber ist ein Flugdach aus Wellblech. Wenn ich da drin bin, sieht mich kein Mensch von außen. Um halb fünf kommt der erste Zeitungsfritze und liefert, um fünf kommt der nächste. Die machen einen Krach, Mann! Um halb sechs kommt der Bäcker, und da isses für mich auch Zeit aufzustehen, kurz nach sechs kommen schon die ersten vom Lager. Von dem, was der Bäcker morgens anliefert, finde ich abends immer die Reste in den Abfallcontainern. Was denkste, was die alles wegschmeißen, das glaubt kein Mensch. Da is alles drin, Joghurt, Quark, Buttermilch, Brötchen, Kuchen, Wurst, Käse, Obst, Gemüse und vor allem Fleisch, viel Fleisch! Ich nehm' jede Menge mit, für andere, nich für mich. Für mich nehm ich mal 'ne Gurke, 'ne Banane, gesten waren lauter Ananas drin, aber ich habe kein Messer... Das Fleisch da drin, das ist originalverpackt, was ham wir heute, den 25.? Heute abend ist lauter Fleisch drin, abgelaufen am 25., morgen dürfen sie das ja nicht mehr verkaufen. Ich nehm' das Beste mit, sogar vom Kalb war schon was da, auch Gulasch, alles. Das geb' ich verschiedenen Leuten, dafür krieg ich dann mal ein bißchen was, vom Blinden mal drei, vier Mark oder Zigaretten. Ein anderer, dem ich Fleisch bringe, der züchtet Hunde, diese kleinen, scharfen, mit dem Fleck auf dem Auge. Der hat mir schon mal so einen angeboten, aber so einen will ich nicht und die Verantwortung wär mir auch zu groß, weißte. Dem Tierarzt bring ich auch Fleisch, ab und zu, vor allem aber Brote, für seine Viecher, dafür kriege ich dann ein paar Mark.
Hier ein Stück runter, die Straße weiter, da is 'ne Bäckerei. Zufällig hab' ich bei denen mal reingeschaut, in die Tonnen, Mann, ich sag' dir was, mit dem kannste ein Geschäft aufmachen, was da drin ist! Das letztemal war der olle Heinz mit dabei, da ham wir für den Tierarzt fast 50 Brote mitgenommen, die verfüttert der an seine Pferde. Und in den
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Tonnen lag auch noch genug anderes Zeug. Das andere mal mach' ich auf, waren lauter Kuchen drin und 'ne ganze Torte, noch gekühlt, die hab' ich mir mitgenommen, 'ne ganze Torte, einwandfrei, so was schmeißen die weg. Versteh' ich nicht. So feine Sachen hab' ich meinem Leben noch nicht gegessen, vorher, und nu in rauhen Mengen. Obwohl, ich eß ja an sich nicht viel, 'ne halbe Schrippe am Morgen, die andere Hälfte am Mittag und dann abends vor dem Schlafengehen noch mal zwei Stullen und was so da ist, 'ne Gurke, 'nen Quark, auch mal 'ne Buttermilch, wenn ich sie finde.“
Er zieht ein zerknülltes Päckchen mit Tabak aus der Gesäßtasche, dreht sich eine eher dünne Zigarette und sucht in allen Hemd- und Hosentaschen nach Feuer, gibt resigniert auf und klemmt sich die Zigarette hinters Ohr. Ich frage ihn, wo er denn im Moment zum Duschen geht.
„Du, das is ganz schlecht im Sommer, die ham ja fast alle zu, machen Sommerpause. Manchmal gehe ich ja zum Blinden, aber da isses, ich will mal so sagen... ein bißchen dreckig, mal geht der Abfluß nich, nee, dann heißt es am Ende noch, ich bin schuld. Ich hab' was anderes gefunden, da kam ich von ganz alleine drauf. Paß uff, du kennst doch den Friedhof gleich an der Hasenheide? Da geh ich ganz nach hinten, wo die alten Gräber sind, von früher, die stehen alle unter Denkmalschutz. Dort kommt nie jemand hin und dort sind auch so 'ne Brunnen, so 'ne Tonnen, weißte, was ich meine? Da kommen vorn immer die Mütterchen und tun sich ihre Gießkannen füllen. Hinten is kein Mensch, da laß ich mir bis oben hin Wasser rein, dann zieh' ich mich aus, kletter' rin, halt' mich am Rand fest und erst mal untertauchen. Du, das is schön, das glaubste nich, wenn ich wieder auftauche, is alles voll mit Bäumen. Bei den Toten entschuldige ich mich immer und sag' denen: Tut mir leid, wenn ich nu eure Totenruhe stören tu, aber ich muß mal ein bißchen baden, ihr wollt doch nicht, daß ich stinke? Dann wasch ich meine Sachen, nur so mit Wasser, ohne Seife, leg' sie ins Gras und mich daneben. Das dauert nich mal 'ne halbe Stunde, bis alles soweit trocken ist. Manchmal hüpf' ich sogar noch mal rein, bevor ich mich wieder anziehe. Da nehm' ich dann 'nen frischen Brunnen. Es gibt runde und viereckige Brunnen, zum Baden nehm' ich die runden, zum Wäschewaschen die viereckigen.“
Ein junger Mann kommt rauchend vorbei, Peter bittet um Feuer und zündet seine Zigarette an der des jungen Mannes an. Dann öffnet er den Reißverschluß seiner Reisetasche, tastet nach etwas und seufzt: „Mann, jetzt hab' ich 'nen Durst gekriegt. Das is, weil ich soviel vom Wasser erzählt hab'. Meinste, ich kann hier vor der Kirche ein Bier trinken, oder gehn wir ein Stückchen abseits? Na, egal, der Liebe Gott sieht alles! Trink' ich's gleich hier. Willste auch 'ne Büchse, ich hab' noch eine, sogar kühl, in meine Zudecke eingewickelt, nee? Du rauchst nich, du trinkst nich, willste mich alten Mann verkackeiern? Ich wollte ja auch schon hundertmal aufhören mit dem Saufen, sogar mit Rauchen, aber ich bin zu schwach, anscheinend... Nu isses auch schon egal. Aber hier, vielleicht interessiert dich das?“
Peter zieht aus seiner Tasche eine Büchse Bier heraus und legt sie auf die Kirchentreppe. Einige Taschenbücher, anscheinend Kriminalromane, stapelt er übereinander, daneben, wie zur Präsentation, fächert er drei ältere Bücher, mit Lederrücken, farbigen Leimpapiereinbänden und ledernen Eckenschutz. Das schönste reicht er mir zur Ansicht.
„Guck mal, das werfen die einfach weg, beim Buchhändler. Die brauchen das anscheinend nich mehr, das ist wohl aus der Mode, drum kauft's kein Mensch, oder was? Ich nehm mir die mit. Ungefähr 20 Bücher hab' ich schon von da. Hab' im Laden nachgefragt, bevor ich was mitnehmen tu. Der Mann sagt, daß alles in diesem Karton für umsonst is. Ich lese gerne, nur, ich kann nicht immer so lang auf meine vier Buchstaben sitzen, davon kann man Hämorrhoiden kriegen, weißte, ich lese höchstens zwei Stunden am Tag. Das hier hab' ich neu angefangen, gestern aufm Friedhof, da mußte ich sogar lachen, über den einen Mann da.“
Das Buch ist von einem Kurt Aram, heißt „Der Kampf um Leda“ und erschien 1926. Zu Hause habe ich nachgesehen und fand den Autor im „Führer durch die moderne Literatur – 300 Würdigungen der hervorragendsten Schriftstellers unserer Zeit“. Erich Mühsam schreibt über den Autor, der auch im Simplicissimus veröffentlichte, er sei „ein feines, humorvolles und sprachgewandtes Talent“. Ein vergessener Schriftsteller. Und Peter liest ihn nach dem Bad auf dem Friedhof. Man kann der Kultur offenbar nicht entfliehen, das gilt für den vergessenen Schriftsteller ganz genauso wie für den vergessenen Stadtstreicher.
„So, jetzt geh' ich noch mal los, nach dem Blinden schauen. Ich hab' so 'n komisches Gefühl, so 'ne innere Unruhe, das hab' ich auch damals gehabt, bei meiner Schwester... hoffentlich ist nichts passiert. Der Anruf bei der Feuerwehr, da braucht man doch keine Münzen einzuwerfen, oder, einfach wählen, ja? Denn bis später.“
Nachtrag:
Am 9.9. meldete Bild Berlin: „Dealer, Vandalen, Müllrowdies, Herrchen mit Rambo-Hunden, Griller – im Volkspark Hasenheide schießen die Probleme ins Kraut. Bei Bürgermeister Bodo Manegold (48, CDU) stapeln sich die Proteste der Neuköllner. Der Rathauschef: ,Da wir kein Geld haben, um den Park auf Vordermann zu bringen, kriegen wir die Probleme nur mit Zaun und Eintritt in den Griff.‘
,... Eine gute Idee‘, sagt Hasenheide-Gärtnerin Marie Luise Samwald (56). ,Ich sammle hier regelmäßig Flaschen, Büchsen, Spritzen, Windeln auf. Und im Teich waschen und rasieren sich die Penner.‘“
taz lesen kann jede:r
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