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Geschäftstarnungen ■ Von Wladimir Kaminer
Einmal verschlug mich das Schicksal nach Wilmersdorf. Ich wollte meinem Freund Ilia Kitup, einem Dichter aus Moskau, die typischen Ecken Berlins zeigen.
Es war um Mitternacht, wir hatten Hunger und landeten in einem türkischen Imbiss. Die beiden Verkäufer hatten augenscheinlich nichts zu tun und tranken in Ruhe ihren Tee. Die Musik aus dem Lautsprecher kam meinem Freund bekannt vor. Er erkannte die Stimme einer bulgarischen Sängerin mit einem nicht aussprechbaren Namen und sang ein paar Strophen mit. Kitup hat auch ein wenig bulgarisches Blut in seiner Adern.
„Hören die Türken nachts immer bulgarische Musik?“, fragte ich mich und wandte mich an Kitup, der in Moskau Anthropologie studierte und sich gut in Fragen volkstümlicher Sitten auskennt. Er wusste keine Antwort und begann deshalb ein Gespräch mit den beiden Imbissverkäufern.
„Das sind keine Türken, das sind Bulgaren, die nur so tun, als ob sie Türken wären“, erklärte mir Kitup später. „Das ist wahrscheinlich ihre Geschäftstarnung.“ – „Aber wieso tun sie das?“, fragte ich. Die Verkäufer erklärten uns: „Berlin ist zu vielfältig. Man muss die Lage nicht unnötig verkomplizieren. Der Konsument ist daran gewöhnt, dass er in einem türkischen Imbiss von Türken bedient wird, auch wenn sie in Wirklichkeit Bulgaren sind.“
Gleich am nächsten Tag ging ich in ein bulgarisches Restaurant, das ich vor kurzem entdeckt hatte. Ich bildete mir ein, die Bulgaren dort wären in Wirklichkeit Türken. Doch dieses Mal waren die Bulgaren echt. Dafür entpuppten sich aber dann die Italiener von dem italienischen Restaurant nebenan als Griechen. Nach dem sie den Laden übernommen hatten, waren sie zu Volkshochschule gegangen, um dort Italienisch zu lernen, erzählten sie mir. Der Konsument erwartet in einem italienischen Restaurant, das er auf Italienisch angesprochen wird. Wenig später ging ich zu einem „Griechen“, mein Gefühl hatte mich nicht betrogen. Sie erwiesen sich als Araber.
Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt. Nichts ist hier so, wie es im ersten Augenblick scheint. In der Sushi-Bar auf der Oranienburger Straße stand ein Mädchen aus Burjatien hinter dem Tresen. Von ihr erfuhr ich, dass die meisten Sushi-Bars in Berlin in jüdischer Hand seien. Außerdem seien die Bars ein Import aus Amerika und nicht aus Japan. Was nicht ungewöhnlich für die Gastronomie-Branche wäre. So wie man ja auch die billigsten Karottenkonserven von Aldi als handgeschnitzte Gascogne-Möhrchen anbiete. Nichts ist hier echt, jeder ist er selbst und gleichzeitig ein anderer.
Ich ließ nicht locker und untersuchte die Lage weiter. Von Tag zu Tag erfuhr ich mehr. Die Chinesen aus dem Imbiss gegenüber von meinem Haus sind Vietnamesen. Der Inder aus der Rykestraße ist in Wirklichkeit ein überzeugter Tunesier aus Karthago. Und der Chef der afroamerikanischen Kneipe mit lauter Vodoo-Zeug an den Wänden – ein Belgier.
Das letzte Bollwerk der Authentizität – die Zigarettenverkäufer aus Vietnam, selbst die bedienen nicht das durch Fernsehserien und Polizeieinsätze entstandene Klischee. Jeder Polizist weiß, das die sogenannten Vietnamesen in ihrer Mehrheit aus der inneren Mongolei kommen. Ich war von den Ergebnissen meiner Untersuchungen sehr überrascht und lief eifrig weiter durch die Stadt, auf der Suche nach der letzten, unverfälschten Wahrheit.
Vor allem beschäftigte mich die Frage, wer die sogenannten Deutschen sind, die diese typisch einheimischen Läden mit Eisbein und Sauerkraut betreiben, diese kleinen gemütlichen Kneipen, die „Bei Olly“, „Bei Scholly“ oder ähnlich heißen, und wo das Bier immer nur die Hälfte kostet. Doch dort stieß ich auf eine Mauer des Schweigens. Mein Gefühl sagt mir, das ich hinter etwas Großem her bin. Aber allein komme ich nicht weiter.
Wenn jemand wirklich weiß, was sich hinter den schönen Fassaden einer „deutschen“ Kneipe verbirgt, der melde sich. Ich bin für jeden Tipp dankbar.
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