: Die Kinder der StäV
Ihre Väter arbeiteten in der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin. So wohnten Sita und Henri in verwanzten Ost-Bungalows und fuhren zur Schule nach Westberlin ■ Von Kirsten Küppers
Henry Bräutigam konnte sich im Religionsunterricht aufführen wie er wollte, eine Zwei im Zeugnis bekam er allemal. Sein Religionslehrer in der Jesuitenschule in Tiergarten begründete das vor den Mitschülern mit: „Weil der arme Kerl im Osten wohnen muss“. In der Tat, Henry und etwa 30 andere Kinder wurden jeden Tag mit einem Mercedes-Bus aus dem Ostberliner Bezirk Pankow-Niederschönhausen über den Grenzübergang Invalidenstraße zur Schule in den Westen gefahren. „Kinder der StäV“ wurden diese jungen Grenzgänger genannt, weil ihre Väter als Angehörige der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik, abgekürzt StäV, in der Hauptstadt der DDR ihren diplomatischen Dienst taten. Eine deutsch-deutsche Kindheit in den 70ern und 80ern, zwischen FC-Karl-Marx-Stadt-Wimpeln und West-Berliner Frontstadt-Lehrern, die den 1,70 Ostmark teuren Haarschnitt schief beäugten.
Ein Leben „unter der Käseglocke“, wie es der heute 28-jährige Henry ganz nüchtern sieht. Die DDR-Behörden mussten sie mit Samthandschuhen anfassen – selbst wenn sie beim Schwarzfahren in der U-Bahn erwischt wurden. Denn „wenn uns was passiert wäre, wäre in Bonn der Teufel los gewesen“, schmunzelt er. Trotzdem war da jeden Morgen aufs neue die Angst am Grenzübergang, bei der Kontrolle inklusive Röntgenbestrahlung seinen Diplomatenpass vergessen zu haben. Das schweißte die kleine Gemeinde im Schulbus zusammen. Klassenkameraden aus dem Westen kamen fast nie zu Besuch, mussten sie doch zwei Wochen vorher einen Einreiseantrag stellen. Man blieb unter sich.
Gewohnt wurde in einem Bungalow vom Typ „Magdeburg“. Wenn Henry heute zu seinem alten Tennisclub in die Gegend fährt, blickt er auf leer stehende oder verwaiste Häuser im alten Diplomatenviertel. Die als Mieter anvisierten Bonner Bundesbeamten ziehen dieser Tage lieber in den Westteil der Stadt.
1974 galt es dagegen noch als spektakulärer Erfolg des Grundlagenvertrages zwischen BRD und DDR, dass Henrys Vater samt Frau und Kindern mit der Eröffnung der StäV in Ostberlin von Bonn nach Niederschönhausen ziehen konnte. Wen von den StäV-Mitarbeitern nicht die Plattenbauten an der Leipziger Straße erwarteten, der wohnte in „Magdeburg“.
Auch Sita von Richthofen lebte in einem solchen Haus. Henrys Spielkameradin kam im Alter von drei Jahren als StäV-Kind mit ihrer Familie von Bonn nach Pankow. Dort lernte sie in einem evangelischen Kindergarten Verse wie „Liebe Mutti, zu Haus und im Betrieb, wir haben dich immer lieb!“ Wenn die blonde 28-Jährige heute daran zurückdenkt, muss sie lachen. Nachmittags standen regelmäßig zwanzig Kinder im Garten und wollten Westschokolade und Kaugummis. Für den täglichen Kindergeburtstag deckte sich Sitas Mutter bei Aldi in Westberlin ein. „Damit die armen Schlüsselkinder nicht die Erbsensuppe auf dem Herd warm machen müssen“, legitimierte sie den regelmäßigen Süßigkeitenrausch.
Leben unter der Käseglocke bedeutete auch, sich an die permanente Observation durch die Stasi zu gewöhnen. Die Putzfrau nahm wie selbstverständlich den Müll aus den Papierkörben mit. Vor dem Gartentor stand ein Volkspolizist, im Telefon hat es geklickt. „Aber das war uns irgendwann egal“, sagt Henry, auch wenn diese Normalität ihm im Nachhinein befremdlich erscheint. Ging es beim Abendessen doch mal um etwas, das der Staatsapparat im Lampenschirm nicht belauschen sollte, raunte der Vater schlicht: „Das sollen die Leute vom gehobenen Dienst nicht hören.“
Die Gespräche drehten sich um Verbindungen zu Dissidenten und Schriftstellern oder Menschenschmuggel – die StäV-Kinder bekamen in dieser ersten Phase der Ostannäherung der 70er-Jahre vor allem mit, dass der Kontakt zu DDR-Bürgern kompliziert war. „Manche machten Witze über das System oder haben offen geschimpft. Andere haben sich nur heimlich im Wald mit meinen Eltern getroffen“, erinnert sich Sita.
Den im Alltag mit den Ostberlinern offensichtlichen Statusunterschied empfanden die von konspirativen Aktivitäten weitgehend unberührten Kinder jedoch viel bedrückender. „Ich wusste immer, ich kann mir alles kaufen, was die DDR-Kinder sich wünschen“, meint Henry. Man kann ihm ansehen, wie unangenehm ihm diese Situation war. Denn durch derlei Privileg war man in der schlangestehenden und Nehmen-müssen-was-gerade-da-ist-Gesellschaft der DDR isoliert. Als Henry beim Fußballverein Concordia Wilhelmsruh mitspielen wollte, steckte ihm der Trainer nach der ersten Stunde: „Du darft wieder kommen, wenn du eine andere Hose anhast.“ Eine Adidas-Hose als Grund, sich nie wieder hinzutrauen. Andere StäV-Jugendliche rollten mit Skateboards über den Alexanderplatz, Henry war das peinlich.
Erst in den 80er-Jahre, als der Umgang der DDR-Behörden mit dem Westen gelassener wurde, traf Henry auch auf DDR-Teenager, die sich Jeans aus dem Intershop leisteten. Um das Sozialgefälle nicht spüren zu müssen, vermied er indes Freundschaften mit gleichaltrigen Ostlern, „tarnte“ sich mit einem DDR-Parka und guckte nachmittags russische Kinofilme – für einen pubertierenden Jugendlichen ein einsames Leben.
Den Mauerfall erlebte Henry viel später auf einem Fernseher in einem Internat im Schwarzwald, das er wegen schlechter schulischer Leistungen seit 1986 besuchte. Die erste Reaktion glich elitärem Frust. „Jetzt dürfen sie alle!“, kommunizierten die Bilder von auf der Mauer tanzenden Deutschen. Käseglocke gelüftet, die Privilegien kaputt, sich frei flottierend zwischen zwei Systemen bewegen zu können war plötzlich nichts besonderes mehr.
Sita, deren Familie schon seit 1977 nicht mehr in Ostberlin lebte, wohnte damals in einem Internat in London. Sie durfte sich den 9. November 89 auf der Mattscheibe nicht einmal ansehen, weil ein Volleyballmatch ihrer Schulmannschaft gerade wichtiger war.
So wie Sita in den darauf folgenden Monaten vor allem die Angst der Engländer vor einem „Vierten Reich“ beschwichtigte, sah Henri sich in den typischen Ossi-Wessi-Diskussionen der Nachwendezeiten oftmals den östlichen Standpunkt verteidigen. Zwar sei er nie in jammernde Ostalgie verfallen, aber eine gewisse Sentimentalität bezüglich Datschensommer und Ost-Ham-burgern namens „Grilletta“ hat er schon manchmal. Inzwischen fühlen sich die beiden immer noch befreundeten Kinder der StäV als „Zeitzeugen“, die als Wessis eben den Karrieren ihrer Väter eine Ost-Biografie verdanken. Henrys Vater Hans-Otto Bräutigam ist inzwischen scheidender SPD-Justizminister in Brandenburg, Hermann von Richthofen ist heute Vorsitzender der Deutsch-Englischen Gesellschaft und politischer Berater der SPD in Brandenburg. Sita und Henry sind beide wieder in Berlin gelandet. Diesmal aber nicht wegen ihrer Väter, sondern wegen der zentralen Studienplatzvergabe (ZVS). Henry hat nur hier einen Platz für Volkswirtschaftlehre bekommen und wohnt seit zwei Jahren wieder in Ostberlin. Sita studiert seit 1993 Medizin und lebt in Kreuzberg.
Anders als früher hat Henry jedoch inzwischen viele gleichaltrige ostdeutsche Freunde. Das Verhältnis ist entspannter als damals. Er teilt mit ehemaligen DDRlern Reminiszenzen und Sprachgewohnheiten, die Westler, die nur für gelegentlichen Verwandtenbesuch in den Osten kamen, kaum kennen. Zu wissen, dass es in HO-Gaststätten „Juice“ statt „Saft“ zu trinken gab, verbindet immerhin. Doch wenn Henry seine alten Wege an inzwischen grell sanierten Fassaden entlangradelt, fällt es ihm schwer, das Bild der bis in die Nachwendezeiten von Einschusslöchern und Verfall geprägten Häusern aus der Erinnerung zu kramen.
Trotz dieser „gefärbten Erfahrungen“ wünschen sich Sita und Henry keinesfalls die alten Verhältnisse zurück. Die Wiedervereinigung war nicht aufzuhalten, sagen beide. Wer sich nach dem Berlin vor Mauerfall zurücksehne, vergesse, wie verkrustet auch der Westteil der Stadt durch die Insellage gewesen sei. Die Hauptstadt profitiere von der seit Mauerfall herrschenden Spannung und dem neuen Tempo. Galoppierender Erneuerungsdruck lasse jedoch mitunter Zweifel an der Umsetzung der Einheit aufkeimen: etwa wenn man feststelle, dass sich die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg ausgetauscht habe, die alten Mieter durch Luxussanierung an den Stadtrand gedrängt werden und sich Schlipsträger in den Straßencafés drängeln. „Manchmal fürchtet man auf der Veränderungswelle nicht mehr mitzukommen und von ihr erschlagen zu werden. Das geht wohl auch vielen Ostlern so“, mutmaßt Henry. Die Hoffnung auf ein Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland habe sich zu großen Teilen als Schimäre entpuppt. Zu viele Stolpersteine trennten Ost- und Westdeutsche voneinander, stellt auch Sita fest, selbst wenn sie persönlich sich dem Deutschland nach der Wierdervereinigung verbundener fühlt. „Es hat sich seit der Wende eine neue Ossi-Mentalität und -kultur gebildet, die sich nicht an die der Wessis anlehnt“, glaubt sie. In dem Krankenhaus in Prenzlauer Berg, in dem sie ihr Praktisches Jahr absolviert, machen die Krankenschwestern deutsch-deutsche Ratespiele. Die Ossis zeichneten sich demzufolge durch mehr Respekt vor Obrigkeiten aus, Westler durch stärkeres Selbstbewusstsein. Bei Sita konstatierten die Schwestern: „Ihnen merkt man nicht an, ob Sie Ostler oder Westler sind.“
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