■ H.G. Hollein: Fallstudien
Die Welt, durch die ich gehe, ist manchmal voller Abgründe. Gott sei Dank fallen meist andere hinein. Etwa die Frau, die Gestern vor mir am Wursttresen stand. Sie hatte den einen Arm in der Schlinge, und um das kontrollierte Voreinandersetzen der Füsse schien es auch nicht zum Besten bestellt. Ausgerutscht sei sie, ließ sie die teilnahmsvolle Verkäuferin wissen. In ihrem Supermarkt. In der Gemüseabteilung. Auf einer breitgetretenen Erbsenschote. Ergo der angebrochene Daumen und Blutergüsse in beiden Knien. Das muss man erstmal schaffen. Ich habe ja eine Theorie, wem so was passiert, aber deren Darlegung könnte mir als intellektuelle Verblendung ausgelegt werden. Ich denke da zum Beispiel an F., einen Freund, der einmal zeitunglesend mit untergeschlagenem Bein auf dem Sofa lag. Dieses gemeinhin als nicht eben allzu verstandesfordernd eingestufte Tun war jedoch offenbar hinreichend, um F.s mentale und kognitive Kapazitäten bis über die Reservemarke hinaus zu beanspruchen. So entging ihm die allmähliche Ertaubung des untergeschlagenen Beines, das bei dem Versuch, sich zu erheben, prompt den Dienst versagte. Die nächsten sechs Wochen verbrachte F. damit, seinen eingegipsten linken Fuß zu kontemplieren. Zeitungen schlägt er seitdem nur noch unter Wahrung alpinistisch erprobter Sicherheitsvorkehrungen auf. Was mich zu der Frau bringt, die nach kindersicheren Steckdosenverschlüssen fragte. Und zwar den türkischen Betreiber einer „Mister-Minit“-Schuh–Schnellreparatur. Das Gespräch im Wortlaut: „Wissen Sie, was ich meine?“ Er: „Ja.“ Pause. Er: „Aber da gehen Sie besser in ein Elektrogeschäft.“ Sie: „In ein Elektrogeschäft?“ Er: „Ja.“ Sie: „Ach ja.“ Es sind Erlebnisse wie diese, die in mir den Verdacht nähren, dass der mathematische Begriff der Unendlichkeit womöglich kein Abstraktum ist, sondern der sehr konkrete Reflex dessen, wohin sich die Fähigkeit der Gattung homo sapiens zu geistiger Fehlleistung entwickeln kann.
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