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Gandhi folgt hier niemand mehr

Der gewaltfreie Widerstand gegen die Engländer begann in Ahmedabad. Nun ist die Stadt vom Erdbeben zerstört. Über die Gelassenheit der Gujaratis – und den Willen zur Größe, der in die Katastrophe mündete

Das Hochhaus war zerstört. In der neunten Etage wohnt meine Schwester

von ASHWIN RAMAN

Für die Inder ist der 26. Januar ein besonderer Tag. Ein Tag, den Hindus und Muslime, Sikhs und Parsis, Jains und Buddhisten, Christen und Juden zusammen feiern. Es ist unser Verfassungstag.

Der Januar ist eine angenehme Jahreszeit in Indien. Die Abende sind kühl, der Himmel blau, und die Nächte mit tausenden Sternen sind so hell, dass man ein Buch lesen kann. Der Duft von Jasmin und der Nachtkönigin liegt in der Luft. Die Kinder stehen früh auf, duschen und ziehen frisch gebügelte Schuluniformen an. In der Schule gibt es Feierlichkeiten, die Fahne wird gehisst, patriotische Lieder werden gesungen. Die Erwachsenen freuen sich auf die Fernsehübertragungen der großen Militärparaden aus Neu-Delhi. Es wird marschiert, neueste Vernichtungswaffen werden zur Schau gestellt und patriotische Reden, mit versteckten Drohungen an Pakistan und China, gehalten. Ein Tag, an dem sich die Inder stolz fühlen.

Mit solchen Erinnerungen fuhr ich vergangenen Freitag nach Hause. Plötzlich hörte ich im Autoradio von dem Erdbeben. Als die Stadt Ahmedabad erwähnt wurde, wurde ich hellhörig. Dort war ich zu Hause, dort lebt meine einzige Blutsverwandte, meine Schwester.

In den 19-Uhr-Nachrichten brachte BBC World die ersten Bilder aus meiner Heimatstadt. Deutlich zu sehen war das stark beschädigte Gebäude namens Shantrunjay Towers, ein zehnstöckiges Hochhaus. In der neunten Etage wohnt meine Schwester. Die Nacht des Schreckens begann. Pausenlos versuchte ich sie zu erreichen. Da sie ihren Arbeitsplatz kurzfristig gewechselt hatte, war mir ihre neue Telefonnummer nicht bekannt. Mein Schwager, Manager eines großen Hotels, erschien auch nicht zur Arbeit.

Bis zum Morgengrauen telefonierte ich über drei Kontinente und erfuhr, dass sie jetzt beim Krishna Heart Institute tätig ist. Es wurde Mittag, bis ich die Telefonnummer herausbekam. Ich erreichte sie dann aber sofort. „Gut, dass du anrufst, ich wollte dir sagen, wir sind gesund. Nur das Haus ist beschädigt. Mini und Mimi (ihre Hunde) sind auch okay“, sagte sie. Wütend fragte ich, warum sie nicht eines ihrer beiden Handys betätigte. Ein Telekom-freundliches gandhianisches Schweigen war die Reaktion (Ghandi pflegte einen Tag in der Woche kein Wort zu sprechen). Als ich sie später bat, mich auf dem Laufenden zu halten, antwortete sie mit typischer Nonchalance: „No problem“.

Wenn Menschen aus Gujarat „No problem“ sagen, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Probleme gerade beginnen. Traditionell ist es gerade diese Gelassenheit, die den Menschen die Fähigkeit gibt, mit einer verheerenden Katastrophe dieses Ausmaßes fertig zu werden. Krisen diverser Art durchzustehen, haben sie in der Vergangenheit gelernt. Mit langem Atem haben sie die barbarische Brutalität der Mogulherrscher und die Brutalität feiner englischer Art gut überstanden.

Der gewaltfreie Widerstand gegen die Engländer hatte seinen Ursprung in Ahmedabad. Nach seiner Ankunft aus Südafrika, 1915, gründete Mahatma Gandhi seinen ersten Ashram in Ahmedabad, am Ufer des Sabarmati. Von hier aus plante er eine Aktion, die den Anfang vom Ende der 200 Jahre britischer Kolonialherrschaft bedeutete.

Am 12. März 1930 startete Gandhi, leicht gebeugt, den Bambusstab in der Hand, Richtung Meer, das 400 Kilometer entfernt war. Tausende folgten ihm, darunter mein Vater. Am 5. April erreichten Gandhi und seine Begleiter Dandi, eine Kleinstadt am indischen Ozean. Nach einem Bad im Meer bückte er sich und nahm ein Stück abgelagertes Salz in die Hand. Dies symbolisierte einen Aufruf gegen das britische Salzmonopol und die Salzsteuer. Binnen einer Woche wurde diese Aktion in ganz Indien wiederholt und wurde zum Symbol des gewaltlosen Widerstands.

Dieses Ereignis hatte ein Nachspiel für mich. Einerseits mussten wir Kinder unzählige Male die Geschichte des Salzmarsches von meinem Vater anhören. Zum Schluss musste ich dann immer die Narbe an seinem Kopf befühlen, die ein britischer Stock ihm zugefügt hatte. Andererseits organisierten europäische Reisebüros 1982, nach dem Erscheinen des Films „Gandhi“, eine Neuinszenierung des Salzmarsches. Die neuen Gandhianer marschierten freiwillig, bei 40 Grad Hitze, die gleiche Strecke, gefolgt von einem Cola- und einem Krankenwagen. Folter pur, im Namen Gandhis. Die Tatsache, dass Gandhis Lehre selbst den Indern in Vergessenheit geraten ist, war den wenigsten bewusst.

In der Fünfmillionenstadt Ahmedabad gibt es einige wenige Gandhi-Straßennamen, vereinzelt Denkmäler, das wär's schon. Seine Vorstellungen von Hilfe zur Selbsthilfe und ländlicher Entwicklung sind im heutigen Bundesstaat Gujarat, dessen Hauptstadt Ahmedabad ist, kaum von Bedeutung. Stattdessen lautet die Devise „Groß ist grandios“. Demzufolge existiert nun das Narmada-Staudammprojekt, das früher von der Weltbank als das größte Projekt in der Geschichte der Menschheit angepriesen wurde.

Im Namen des Fortschritts und der Geldgier sollten über 3.000 große und kleine Staudämme entlang des 1.300 Kilometer langen Narmada-Flusses gebaut werden. Dabei spielt die Umsiedlung tausender Ureinwohner und die Vernichtung ihrer Dörfer keine Rolle. Hauptsache, es gibt Strom für die Industrie und Wasser für die Landwirtschaft. Die Reliance Industries baute 1996 die größte Petrochemie-Anlage Indiens, in der Hafenstadt Jamnagar. Es wurde fleißig im Meer und auf dem Land gebohrt. Die gesamte Landschaft in Gujarat ist geprägt von intensiv bearbeiteten Erdnuss- und Baumwollfeldern. In den 72 Textilfabriken in Ahmedabad wird die Baumwolle zu Jeansstoff verarbeitet, beispielsweise für Levis und Mustang. Obendrein werden in der Wüste von Kutch Atomversuche durchgeführt. Das Gleichgewicht mit der Natur ist in Gujarat zerstört.

Wenn Menschen aus Gujarat „No problem“ sagen, beginnen die Probleme gerade erst

Ein Erdbeben der Stärke 7,7 auf der Richterskala, vergleichbar mit der Kraft von 425 Hiroshima-Bomben, war vorprogrammiert. Auch die komplette Zerstörung von Wüstenstädten wie Bhuj und Anjar war vorherzusehen. Dass 75 Hochhäuser in Ahmedabad zusammenklappen wie Kartenhäuser, nicht nur wegen schlechter Bausubstanz, dürfte keine Überraschung sein.

Mindestens 10.000 Tote, tausende vermisst und ein vorläufiger Sachschaden von 15 Milliarden Mark ist das Fazit dieses Erdbebens. Wie geht es weiter? Ich befürchte, genau wie vorher.

Die Infrastruktur wird ausgebaut durch die Kreditvergabe internationaler Organisationen. Aber die Gewinn bringenden Privatinvestitionen werden von im Ausland lebenden Gujaratis kommen. Zum Beispiel von den geschäftstüchtigen Patels in Europa, USA, Kanada und Südafrika. Patel, das ist ein indischer Familienname wie in Deutschland Müller oder Maier. Die Haupteinkaufstraße in London, die Oxford Street, ist fest in der Hand der Patels. Im Londoner Telefonbuch sind nach den Smiths die meisten Einträge mit dem Namen Patel zu finden.

In den USA werden Motels spöttisch Potels genannt, weil sie von den Patels aufgekauft wurden. Auch die führenden Diamantenhändler in Antwerpen sind Patels. Die Diamanten werden nach Ahmedabad und Surat zum Schleifen geschickt und dann wieder reimportiert.

Jeder dieser Patels hat seine Wurzeln in Gujarat. Sie werden alles tun, damit ihr Heimatstaat wieder eine wirtschaftlich blühende Landschaft wird. Bis zur nächsten Naturkatastrophe.

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