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Augen auf für Nebenan!

Die Schwaben in Herrenberg sind überaus aufmerksam. Von geradezu elektrisierter Zugewandtheit für ihre Mitmenschen. Die Bräuche gegenüber Unbekannten indes sind etwas eigenwillig. Ein Erlebnisbericht über das Fremdeln in der Heimat

von LORENZ ERDMANN

Jährlich kurz vor Weihnachten fahre ich von Berlin in meine schwäbische Heimat Herrenberg, genauer gesagt in den wohlhabenden Ortsteil Ehbühl, um Eltern und alte Freunde zu besuchen. Im ausgehenden Millenniumsjahr sprang mir an der Einfahrt zum Ehbühl ein Schild ins Auge, auf dem sich zwei stilisierte Häuschen lachend anäugen. In geneigten Lettern stand darunter: „Augen auf für Nebenan!“ Am Morgen des 29. Dezembers, bei einigen Tassen duftendem Bohnenkaffee im festlich geschmückten elterlichen Wohnzimmer, reifte der Gedanke in mir, dass sich das Lebensgefühl im Ehbühl womöglich gewandelt hat. Ich beschloss, im Felde nach Antworten zu suchen.

Voller Elan begebe ich mich hinaus, fotografiere das Schild „Augen auf für Nebenan!“ und setze meinen Weg gut gelaunt und freundlich grüßend fort. Als ich einen bündig in eine dichte Hecke eingelassenen Zigarettenautomaten ablichte, prescht eine rüstige Endvierzigerin die nahe gelegene Hauseinfahrt hinunter und reckt wie elektrisiert ihren Hals. Die Sicherheit, mit der ich mich im Revier meiner Kindheit herumgetrieben habe, erleidet einen Knacks. Fortan meide ich Sackgassen, um keinen Anlass für Spekulationen zu bieten.

Zu meiner Zufriedenheit entdecke ich jedoch auch auf unverfänglicherem Gelände einige fotogene Motive, die meine alte Heimat treffend charakterisieren. Ruft das Schild „Bitte vorwärts einparken“ ein Schmunzeln in mir hervor, so bedrücken mich die umfassenden Regelungen für die Benutzung der sorgfältig angelegten Kinderspielplätze. Unter anderem ist das Spielen von 12.30 Uhr bis 14 Uhr nicht gestattet; eine vollständige Wiedergabe der Spielplatzvorschriften würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen.

Als nächstes Motiv, das durch geometrische Schärfe besticht, lichte ich eine Batterie von sechs Mülltonnenbehältern ab (im Vordergrund eine gepflasterte Einfahrt, im Hintergrund die Silhouette eines Mercedes). Die Leblosigkeit dieses gediegenen Wohngebietes begegnet mir kurz darauf symbolisch in Form einer toten Amsel, augenscheinlich am Glasgehäuse der Bushaltestelle zerschellt.

Als mir der metallisch glänzende Kühlergrill eines Mercedes in der engen Straße frontal entgegenkommt, trete ich zur Seite und bleibe stehen, um ihn vorbeizulassen. Die Stuttgarter Nobelkarosse fährt jedoch nicht wie erwartet vorbei, sondern hält direkt vor mir. Zwei Streifenpolizisten, ein Mann und eine Frau, entsteigen dem Wagen. Der Polizist teilt mir in sachlichem Ton mit, dass die Polizei Herrenberg vor etwa einer Viertelstunde Anrufe aus dem Ehbühl erhalten hat, wonach dort „eine Person herumliefe, die sich verdächtig mache und auf die meine Personenbeschreibung zutrifft“.

Die Frage, ob mir die diesjährigen Wohnungseinbrüche im Ehbühl bekannt sind, bejahe ich. Der Polizist macht einen gewissenhaften und seriösen Eindruck. Sein rötliches Haar glitzert leicht in der flach stehenden Wintersonne, was auch ihm ein wenig Glanz verleiht.

Ich übergebe dem Polizisten meinen Personalausweis und stelle einige unergiebige Fragen zum konkreten Anlass des Polizeieinsatzes. Mir dämmert, dass es durch das Ablichten der Schilder möglicherweise zu einem Anfangsverdacht gekommen ist. Sollte mir etwa ein Ehbühler Schildbürger einen üblen Streich gespielt haben? Der Polizist zeigt kein Interesse an dieser Überlegung, weist mich aber stattdessen an, meine festen Gegenstände auf das Autodach zu legen und dann die Arme locker hängen zu lassen. Nachdem ich diesen Anweisungen artig Folge geleistet habe, schickt er sich an, etwa in der Straßenmitte eine Leibesvisitation durchzuführen.

Er untersucht mich sowohl von vorne als auch von hinten, einschließlich des Abtastens der Innenseiten der Beine bis hoch zu den Genitalien. Ich lasse die Leibesvisitation angewidert, aber reglos über mich ergehen. Plötzlich schießt es mir durch den Kopf: Wackelt da nebenan nicht die Gardine? Es wäre mir in diesem Augenblick lieber, der Polizist und ich würden uns ehrenhaft duellieren, anstatt mir an diesem Ort von irgendeinem Polizisten zwischen die Beine greifen zu lassen. Aber auch diese Pein geht vorüber, denn der Zeremonienmeister hat als nächsten Programmpunkt die baldige Übergabe an die „Sonderkommission“ vorgesehen.

Endlich darf ich wieder Mercedes fahren! Mit einer schwungvollen Bewegung seines Rumpfes wuchtet der Polizeibeamte einen Aktenkoffer aus dem Fußraum vor der Rückbank und verstaut ihn anschließend im Kofferraum. Ich werde angewiesen, mich hinten rechts hinzusetzen. Schade! Ich wäre so gerne vorne mitgefahren, um mein Ohr näher am klangvoll schnurrenden Puls des wassergekühlten Reihensechszylinders zu haben. Der Polizeibeamte stellt zufrieden fest, dass ich mich bereits angeschnallt habe. Mit geröteten Wangen fiebere ich dem Anspringen des wassergekühlten Reihensechszylinders entgegen. Oder ist es ein Reihenvierzylinder? Egal – ein Kindheitstraum geht in Erfüllung! Ich genieße die Fahrt durch meine alte Heimat, bin aber bald darauf enttäuscht, dass sich der übliche Verkehrsstau an diesem Tage in Grenzen hält und die Fahrt somit schon nach wenigen Minuten auf der Wache endet. Da sich auf meiner Seite eine Kindersicherung befindet, warte ich, bis mir die Wagentüre von außen geöffnet wird, und steige dann aus. Als sie hinter mir mit einem soliden Klicken ins Schloss fällt, entrutscht mir ein tiefer Seufzer.

In der Polizeiwache halte ich der attraktiven Polizistin auf dem Weg zum Vernehmungszimmer eine Zwischentüre auf, wobei ich mich um ein charmantes Lächeln bemühe. Wie froh bin ich in diesem Augenblick, eine gute Kinderstube genossen zu haben!

Ich nehme an einem braunen Kunstholztisch Platz, die Polizistin setzt sich an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Zu ihrer Linken, und damit zu meiner Rechten, flimmert ein PC vor sich hin, der durch ein Einloggfenster gegen unbefugte Benutzung gesichert ist. Die Polizistin gibt ihre Müdigkeit durch immer häufigeres und intensiveres Gähnen preis, wobei sie bald jeglichen Unterdrückungsversuch aufgibt. Um ein persönliches Gespräch bemüht, frage ich, ob sie auch an den Feiertagen arbeiten musste. Sie nickt, wird von einem weiteren Gähnkrampf geschüttelt und fügt hinzu: „Hoid ben i au um halb fenve ufgschdandä.“ Glücklich, nach den Strapazen des förmlichen Umgangs eine persönliche Ebene gefunden zu haben, suche ich, die verdächtige Person, ein Gespräch über Weihnachten – ja: das Fest der Liebe.

Verdächtige Person: Normalerweise bin ich jedes Jahr an Weihnachten bei meinen Eltern, nur 1998, da war ich in Kenia.

Polizistin: Wie feihred dieh Weihnachde?

Verdächtige Person: Da, wo ich war, fängt man an Weihnachten schon morgens an, Bier und Schnaps zu trinken, und nicht wie sonst erst abends. Geschmückt, so wie bei uns, wird nicht. Und auch wegen der Hitze kam bei mir keine richtige Weihnachtsstimmung auf.

Polizistin: Also – in so a unzivilisierdes Land welld i ed gange. I kennd mei Schnitzl ed genieße, wenn i wois, des die älle Honger hend.

Die Reflexionen der Polizistin über Hunger und Schnitzel verarbeitend, die Zusage zum Mittagessen bei der Mutter im Nacken, sinnierend: Und was ist eigentlich mit BSE?, werde ich jäh aus meinen fleischigen Tagträumen gerissen. Der Polizist, der mich zuvor am Leibe visitierte, betritt unverhofft das Vernehmungszimmer. Unterdessen hat er die Personalien, auch die meiner Eltern, überprüft. Meine Mutter wurde telefonisch aufgesucht, wobei sie den Advent ihres Sohnes am 23. 12. 2000 bestätigte und die Festnahme vor dem Hintergrund der Einbruchsserie im Ehbühl mit einem schallenden Lachen quittierte. Als schließlich noch meine Schuhsohlen mit fachmännischem Blick gemustert worden waren (dies war wohl der angekündigte Programmpunkt: Übergabe an die „Sonderkommission“), steht der Entlassung nichts mehr im Wege.

Beim Verlassen der Wache erkundige ich mich, ob ich im Ehbühl am besten mit dem Auto von A nach B fahren soll, um zu vermeiden, dass mir Ähnliches wie heute widerfährt. Resigniert sacke ich in mir zusammen, als die Polizistin entgegnet: „Des nitzd Ihne au nix, wenn Se a Berlihnr Kennzaiche hend. Da mache Se sich genauso verdächdig.“

Aus dem Dienstmercedes der Herrenberger Polizei erhasche ich bei der Rückfahrt ins Ehbühl einen Blick auf meine alte Schule. Dann halten wir vorschriftsmäßig an einer roten Ampel. Mich entsinnend, dass an dieser Stelle die Einfahrt in den geplanten Schlossbergtunnel vorgesehen ist, frage ich, ob der Tunnel denn nun tatsächlich gebaut werden soll. Der Polizist erzählt, dass d‘Schdifdskirch ohnehiehn jährlich zwoiahalb Zendimehdr de Buggl raarudschd, was sich durch den Tunnelbau wahrscheinlich noch beschleunigen werde.

Die Ampel schaltet auf Grün, wir fahren am Schild „Augen auf für Nebenan!“ vorbei, und ich lasse mich dort absetzen, wo ich zuvor auszog, das Lebensgefühl im Ehbühl einzufangen. Zwei Stunden später – denunziert, leibesvisitiert und auf der Wache verhört – komme ich zu dem Schluss, dass Herrenberg alles nur Erdenkliche unternehmen sollte, die Kirche im Dorf, äh, in der Kreisstadt zu lassen.

LORENZ ERDMANN, 31, ist Diplomingenieur und arbeitet beim Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin

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