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Ein halbes Leben hinter Mauern der Psychiatrie

■ Der sowjetische „Gewissensgefangene“ Nicolai Baranow wurde nach 23 Jahren Knast und Psychiatrie freigelassen / Pressekonferenz bei ai

Aus London Rolf Paasch

Abrupt steht Nicolai Baranow vom Podium auf und erhebt seine rechte Hand fast mechanisch zum Peace–Zeichen. Ein Gewitter von Blitzlichtern hagelt auf ihn nieder. Neben ihm lächeln die Mitarbeiter der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international, die ihrem ehemaligen „Prisoner of Conscience“ seinen wohlverdienten Auftritt gönnen. 10.000 Briefe hatten drei Amnesty–Gruppen aus Großbritannien, Kanada und dem bundesdeutschen Lippstadt geschrieben, ehe die Intervention des britischen Labourführers Neil Kinnock bei seinem Moskaubesuch 1984 zwei Jahre später Erfolg zeigte. Baranow beginnt mit seinem heißerwarteten Erlebnisbericht. Er wird simultan übersetzt. 1952, mit 16 Jahren hatte er sich einen Radioempfänger gebastelt und hörte BBC sowie die Stimme Amerikas. Von da an, sagt er, „betrachtete ich mich als Anti– Kommunisten.“ 1962 trifft er einen Freund, der eine nationalistische, anti–kommunistische Untergrundorganisation gegründet hatte. Nicolai verteilt Flugblätter und wird, 27jährig, im April 1963 verhaftet. Wegen „anti–sowjeti scher Agitation und Propaganda“ muß er fünf Jahre in den Knast. Danach versucht er wieder Fuß zu fassen. Ein halbes Jahr reist er auf der Suche nach Arbeit und einem legalen Wohnsitz durch die Sowjetunion. Moskau, die Reisfelder von Taschkent, überall ist es das gleiche: Ohne Geld und Papiere fällt er auf, wird am Ende auf der Krim als Landstreicher aufgegriffen. Zurück in Moskau, verfaßt er in seiner Verzweiflung zwei „Anti– Sowjetische Erklärungen“. Baranow will sein Heimatland verlassen. Stattdessen landet er in der Psychiatrie. Es folgt eine 17 1/2jährige Odyssee durch die Kliniken der Sowjetunion. Er wird wie ein ein „gefährlicher Verrückter“ behandelt, mit Haloperidol und Aminosin vollgespritzt. Herzbeschwerden, geschwollene Beine und Fieber verwandeln den einst kräftigen Mann in ein körperliches Wrack. Trotz der ausführlichen Schilderung seiner „Behandlung“ bleibt sein Bericht merkwürdig flach - sehr zum Unwillen der anwesenden Pressemeute. „Können Sie die Angriffe des Personals und die Auswirkungen der Medikamente bitte noch ein bißchen detaillierter schildern.“ bittet ihn der Herr von den Wolverhampton News. Nicolai versucht sein Bestes. „Und Halluzinationen haben Sie nach Einnahme der Medikamente gar keine gehabt?“ fragt die Dame von der BBC beinahe enttäuscht. „Nein“, hat er nicht. „Das reicht jetzt für die 6–Uhr– Nachrichten“, flüstert ihr der Kameramann zu. Die Frage der taz nach Baranows politischen Überzeugungen und der Ideologie der Untergrundorganisation fällt da völlig aus dem Rahmen. „Christlich–demokratisch, ein demokratisches Modell wie im Westen, private Wirtschaft“.

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