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Q U E R S P A L T E Nachhilfe in Dialektik

■ Nach dem Gipfel dementiert der sowjetische Außenminister den sowjetischen Chefunterhändler

Seit einer Woche hat in der westlichen Hemisphäre eine Spezies Hochkonjunktur, die immer dann besonders gefragt ist, wenn Informationen rar sind: die Kreml–Astrologen. Eine Woche ist es her, seit die „beiden mächtigsten Männer der Welt“ ihren „historischen Kompromiß“ von Reykjavik um Haaresbreite verfehlten, und noch immer weiß niemand, ob, und wenn ja, welche Konseqenzen denn nun daraus entstehen. Und dies, obwohl zumindest eines klar ist: Solange man dem amerikanischen Präsidenten sein Lieblingsspielzeug verbieten will, kann man mit ihm Pferde stehlen. O–Ton US–Botschafter Burt am Mittwoch letzter Woche: Gegen eine Null–Lösung bei den Mittelstreckenraketen hätten die USA nichts einzuwenden. Damit schiebt sich die Frage in den Vordergrund: Was will der Russe? Getreu Gorbatschows Direktive der neuen Offenheit, die bereits alle Kreml–Astrologen brotlos zu machen drohte, verkündete bereits zwölf Stunden nach Abschluß von Reykjavik Moskaus Sonderbotschafter Lomejko in Bonn: Die Verhandlungen gehen weiter. Separates Abkommen für Null–Lösung im Mittelstreckenbereich weiter möglich. Zwei Tage später wurden die Bundesbürger aus berufenem Munde in diesem Glauben bestärkt: Gorbatschows Chefunterhändler in Genf, Viktor Karpow, versicherte Genscher, SDI stünde einer Verschrottung von SS–20, Pershing II und Cruisse Missiles nicht im Wege. Auf das Erstaunen folgte das Dementi. Die Vorschläge der Sowjetunion, so der Sprecher des Moskauer Außenministeriums, Gerassimow, seien ein „Komplex von Vorschlägen, also ein Paket, das nicht zu teilen“ sei. Auf die Frage des erstaunten Publikums, warum dann Gorbatschows Chefdiplomat Karpow das Gegenteil behaupte, entgegnete Gerassimow, die sowjetischen Positionen seien mitnichten widersprüchlich. Verwirrung hätte allein die westliche Presse angerichtet, der es an „Verständnis für die Dialektik der Dinge“ mangele. Damit ist der Startschuß für die Suche nach der Synthese nun erst richtig gefallen: Ist Gorbatschow nicht tatsächlich doch nur ein Fiesling mit anderem Image, oder sind ihm intern die Hände gebunden? Muß man um den sowjetischen Reformer fürchten, oder hat er Reagan eine ganz hinterhältige Falle gestellt? Will er überhaupt abrüsten oder nur Zeit gewinnen, bis das sowjetische Sternenkriegsprogramm ebenfalls entwickelt ist? Fragen über Fragen. Sicher ist nur eins: Wir brauchen Nachhilfe in Dialektik. Jürgen Gottschlich

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