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Geschnarcht wird nicht mehr im Kollektiv

■ Die Bewohner des „Kerngehäuses“, eines der größten Berliner Besetzerprojekte, feiern heute ihr sechsjähriges Jubiläum / Nach wie vor gemeinsames „Leben und Arbeiten im Blockkern“, auch wenn es inzwischen gesetzter zugeht

Von Maria Kniesburges

Berlin (taz) - Alternatives Leben und Arbeiten - selbstbestimmt, bar der Entfremdung und beengenden Normen, solidarisch–kollektiv, ökologisch sinnig, politisch entschieden, störrisch. Das alles, eher mehr als weniger - und zwar sofort. Manch einer derer, die seinerzeit daran gingen, diesen Traum vom neuen Leben wahr werden zu lassen, sitzt nun da: nach keineswegs selbstbestimmter Arbeit im Kreise der Familie, die sich immerhin bereits bei ihrer Gründung vom Erfordernis des Trauscheins emanzipiert hat. An der Klotür der Fünf–Zimmer– Wohnung als Relikt ein wahres Wort: „Wer keine Zeit zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen.“ Aus vielen Träumern sind Realisten geworden, viele Kämpfe sind abgesagt. Andere kämpfen noch immer, und seis um die Marke des Bieres, das in der Wohngemeinschaft bereitzustehen hat. Der Traum vom neuen Leben hat seinen Preis. Durchgehalten haben die knapp 60 Bewohner des „Kerngehäuses“, eines der größten und ältesten Besetzerprojekte in Berlin–Kreuzberg, genauer im tiefsten SO 36 - fast direkt an der Mauer. Satt Selters ist heute Sekt angesagt, die Kerngehäusler feiern ihr sechsjähriges Jubiläum in der ehemaligen Nähmaschinenfabrik, die die ehemaligen Besetzer dank Kredit eines linken Erben mittlerweile ihr Eigen nennen. So manches hat sich in den zuweilen turbulenten sechs Jahren dahin bewegt, wo es doch eigentlich gar nicht hin sollte, sind doch die Jahre auch an den Kerngehäuslern nicht spurlos vorübergegangen - man ist gesetzter geworden. Dennoch, das grüne Schild an der Toreinfahrt zum Gelände der ehemaligen Nähmaschinenfabrik verspricht noch immer nicht zu viel: „Leben und Arbeiten im Blockkern.“ Ganz so, wie es in den 70ern gedacht war - alles auf einmal und alles unter einem Dach. Nach eigenem Plan, aber nichtsdestoweniger heftig wird in den zahlreichen Kollektiven, die das Kerngehäuse beherbergt, gearbeitet. Schweißers, Tischlers und die Heizungsbauer bilden den Kern der Handwerksfraktion. In der inzwischen bestens ausgerüsteten Taxi–Werkstatt haben drei der ältesten Taxi–Kollektive Berlins ihren Sitz. Nicht immer zur Freude der Wohngemeinschaft im darunterliegenden Stockwerk veranstaltet das Gesundheits–Selbsthilfe–Zentrum Kurse von Gymnastik bis zu Atemübungen. Das „Ratibor Theater“ sorgt für Kultur im „Kiezpalast“, politische Gegenöffentlichkeit per Plakatkunst oder Media–Show entwickelt Kurt. Aufgeteilt sind die Fabrik gebäude in einzelne Wohngemeinschaften. Hier nun ist eine Bewegung im Gange, die sich keineswegs der ungeteilten Zustimmung aller Kerngehäusler erfreut. Wurde doch erst vor kurzem nach wohl zermürbenden WG–Debatten von einer der weitläufigen Fabriketagen sozusagen ein Appartement abgeteilt. Eine Entscheidung, die das mittwöchliche Plenum der Fabrikbewohner für geraume Zeit in Erregung versetzte. Längst auch vorbei die Zeiten, als es in Schweißers Etage noch Funktionsräume gab. Nix mehr mit gemeinsamem Schlafraum, Wohnräumen und Küche - geschnarcht wird mittlerweile individuell. An Selbstkritik mangelt es nicht: „Früher sah das noch anders aus, wenn hier für eine Demo mobilisiert wurde“, wird dem Umstand nachgetrauert, daß es mit den Initiativen zu Aktionen deutlich nachgelassen hat. Immerhin: Es gibt sie noch, und das, obwohl die Kinder inzwischen ihre Zeit fordern. Viel gemeinsame Energie wird in das Haus gesteckt. Am Bau wird demonstriert, wie praktische Ökologie aussehen kann. Unter ökologisch sinnigen Kriterien entwickelte das Ingenieurbüro im Kerngehäuse eine Heizungsanlage per Wärme– Kraft–Koppelung - das dazu erforderliche Aggregat gibt es bislang lediglich im Industriemaßstab. Diesen Traum zu realisieren hieß in der Tat kämpfen, besser gesagt schuften. Gebaut wird - bis auf wenige Ausnahmen - in Eigenarbeit. Das heißt dann auch: Gräben für die Heizungsleitungen ausheben, entgegen aller gewerkschaftlicher Prinzipien in Samstags– und Sonntagsarbeit. Mithin, der Erfolg des Einsatzes der Heizungsbauer und Helfer hat sich pünktlich zur kalten Jahreszeit eingestellt: Es ist warm im dörflichen Idyll in SO 36. Va bene.

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