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D O K U M E N T A T I O N „Überwinden wir unsere Angst“

■ In der Nr.2/87 der Charta 77 wird Stellung genommen zur Demokratisierung, zur Freiheit von Presse und Kultur und zur ökologischen Erneuerung der Gesellschaft der CSSR

Als vor zehn Jahren die Charta 77 entstand und in das öffentliche Leben trat, erschien sie manchen als eine Gruppe von Träumern. Die zehn Jahre brachten viele Veränderungen. Es ändert sich die Gesellschaft, es ändert sich langsam auch die politische Atmosphäre in unserem Land, es ändert sich manches auch im internationalen Maßstab. (...) Auch die Vertreter der Macht bekennen sich in unserem Land hin und wieder zur Demokratie, zur Gerechtigkeit, zur öffentlichen Kontrolle ihrer Leistung. (...) Ein Schritt auf größere Demokratie hin wäre für unsere Völker kein Schritt ins Unbekannte. Wir können uns auf etwas stützen, haben unsere eigenen demokratischen Traditionen. (...) Wir wissen selbstverständlich nicht, wann und auf welche Weise sich die Wende in diese Richtung in unserem Land verwirklichen wird. Wir wissen jedoch, daß sie früher oder später wirklich werden muß. Und wir wissen auch, daß das Schicksal dieses Landes nicht nur von der politischen Macht abhängt, und daß nicht einmal ihr eigenes Verhalten nur von ihr abhängt. Weitaus mehr hängt von dem ab, was wir alle tun, was die Gesellschaft tut. (...) Hören wir auf zu warten, was die andern tun, tun wir selbst etwas. Wachen wir auf aus der Apathie, verfallen wir nicht dem Gefühl der Vergeblichkeit, überwinden wir unsere Angst! (...) Die Verfassung, die allgemeine Menschenrechtserklärung, die Charta der UNO, die internationalen Pakte Menschenrechtsabkommen, die Schlußakte von Helsinki, das alles kann sowohl wertloses Papier sein wie auch ein sehr konkreter und verpflichtender Maßstab und Leitfaden (...) Alle können wir gleich morgen anfangen, die Wahrheit zu sagen. Nicht nur zu Hause, sondern auch am Arbeitsplatz, bei gesellschaftlichen Zusammentreffen, auf den unterschiedlichsten Versammlungen. Und zwar nicht nur die Wahrheit über den üblichen Schlendrian, den wir um uns herum sehen, sei es in der Produktion, in den Geschäften oder bei den Dienstleistungen, sondern auch über seine Ursachen. (...) Alle können wir unsere Gewerkschaftszugehörigkeit ernst nehmen, auf unseren formal erklärten und nicht respektierten Rechten bestehen, in die Gewerkschaftsorgane unerschrockene Vermittler des wirklichen Willens der Werktätigen wählen, nach freier Diskussion ausgewählte Vertreter. (...) Alle können wir in unterschiedlichen Umgebungen informelle politische Foren bilden, die dem freien Meinungsaustausch geöffnet sind, bestehende Gelegenheiten dazu nutzen und neue herausbilden. (...) Wir können wahrhaftige Informationen beanspruchen, die Wahrheit in den bestehenden Kommunikationsmedien schreiben und uns eventuell neue Brennpunkte und Möglichkeiten freien Meinungsaustausches schaffen. Jeder Betrieb oder jede Fabrik könnte eine Zeitung herausgeben, in der frei geschrieben würde, wenn die Werktätigen sich tatsächlich ernsthaft dafür einsetzten. Wir alle wissen, wie katastrophal die ökologische Situation in unserem Land ist. Warum aber sprechen wir nur in privatem Umkreis davon, warum wird in der Öffentlichkeit nur über ein Zehntel der Probleme gesprochen, und warum wird fast nirgendwo über ihre eigentlichen Ursachen gesprochen? (...) Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen wäre dabei das natürliche Rückgrat einer solchen Diskussion (...) Lehrer sollten die Wahrheit lehren, sie sollten in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen unterrichten. (...) Die gläubigen Mitbürger sollten sich nicht fürchten, in die Kirche zu gehen, und sollten ihren Glauben nicht verbergen. (...) Wie frei die Kultur sein wird, hängt wiederum vor allem von der Kultur selbst ab. Vor allem von ihren Schöpfern. Freies Schaffen kann niemand verbieten. Nur die Künstler und Wissenschaftler, die um ihre Stellung, um ihre Möglichkeiten fürchten, verbieten es sich selbst. (...) Wir sind gegen haßerfüllte Kämpfe, Hetzkampagnen, neue Schismen, Revanchen und Rache. Wir sind für eine demokratische Diskussion in der Atmosphäre leistungsfähiger Zusammenarbeit aller Bürger und gesellschaftlichen Kräfte. (...) 1. Januar 1987 Jan Litomisky, Libuse Silhanova, Josef Vohryzek, Sprecher der Charta 77 Martin Palous, Anna Sabatova, Jan Stern, abtretende Sprecher der Charta 77 Jiri Hajek, Vaclav Havel, Erste Sprecher der Charta 77

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