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Nur Almosen von eiskalter Thatcher–Regierung

■ Die Briten kommen wohnungsbaulich und energietechnisch mit der Kälte nicht klar / Besonders 1,75 Mio. Rentner sind schwer betroffen / Täglich sterben mehr als hundert / Die Heizzulage der Regierung von 15 DM pro Woche ist ein Hohn

Aus London Rolf Paasch

Das ganze Jahr über reden sie übers Wetter, und wenn es dann kommt, brechen sie in Panik aus. Kein anderes nordeuropäisches Land ist für den Winter so schlecht ausgerüstet wie Großbritannien. Sobald das Barometer unter den Gefrierpunkt sinkt, spielt eine verschneite Insel verrückt. „Bleiben Sie zu Hause“ legte der Radiosprecher den Londonern am Mittwoch morgen ans Herz, nachdem die Fahrversuche der Pendlerzüge in den vergangenen Tagen in den Schneeverwehungen geendet hatten. Die meisten Schulen sind geschlossen, kaum einer gelangt zu seinem Arbeitsplatz. Dabei hat sich die sibirische Kälte hier im Vergleich zum Kontinent über der Nordsee schon aufgewärmt. Was in MÜnchen eine mangelhafte Schneeunterlage ist, legt in England das gesamte öffentliche Leben lahm. Und alle paar Jahre zeigen sich die 56 Millionen Inselbewohner aufs neue überrascht, daß es trotz Golfstrom auch mal kalt werden kann. Dann werden Reporter in skandinavische Länder ausgeflogen, von wo sie erstaunt berichten, wie die dortigen Eingeborenen mit doppelt so tiefen Temperaturen besser fertig werden. Dann wird die (noch) staatliche Eisenbahn angegriffen, weil sie mit ihren drei Schnee pfluglokomotiven überfordert ist. Dann wird mit dem Teekessel auch noch das Autokühlwasser gekocht, weil man Frostschutzmittel bisher für einen „Drink“ der Eskimos hielt. Während so Eis und Schnee die Landschaft bedecken, entblößt gerade das arktische Wetter die wirtschaftliche Malaise und die soziale Spaltung des Landes. Plötzlich erscheinen in den Zeitungen Statistiken darüber, wieviel Prozent der Wärme durch Tür und Fenster verpuffen. Während sich die Vorzüge der Doppelverglasung bis Madrid und Turin herumgesprochen haben, bleibt die britische Industrie stur bei ihrem viktorianischen Design und verdammt die Bürger zur Energieverschwendung. Großbritannien hat die zugigsten Häuser aller europäischen Industriestaaten, Reflex einer Wohnungsbaupolitik, die seit Beginn dieses Jahrhunderts dem Bedarf um Längen hinterherhinkt. Wenn das Design für die Wohntürme der 60er Jahre für Nordafrika bestimmt war, bleibt auch die gerade privatisierte Gasflamme von „British Gas“ machtlos. Während sich die neue Mittelklasse in ihre Domizile Heizungen eingebaut hat, hocken die Alten und Arbeitslosen vor dem Gasöfchen in der Küche. Viele Rentner haben sich ihr Bett gleich daneben aufgebaut, weil sie die Heizung für mehrere Zimmer nicht bezahlen können. Trotzdem sterben an frostigen Tagen über 100 alte Leute an Unterkühlung. Im letzten Jahr waren es ingesamt 13.000. Die Sterberate der über 65jährigen steigt in den Wintermonaten regelmäßig um 24 um 8 Sozialhilfe angewiesenen Rentner im Winter ist das wohl düsterste Kapitel in der siebenjährigen Herrschaft der Regierung Thatcher. Und das will etwas heißen. Nach den neuen Bestimmungen sollten die rund 1,75 Mio. als „bedürftig“ definierten Pensionäre pro Woche eine Heizzulage von rund 15 DM bekommen; vorausgesetzt, die Durchschnittstemperatur bleibt sieben Tage unter - 1,5 Grad Celsius. Wenns also nach fünf Tagen Frost taut, gehen die Alten leer aus; wobei niemand im voraus weiß, ob er seine Heizungsrechnung zahlen kann. Nach lautstarken Protesten von Wohlfahrtsorganisationen wie „Age Concern“, und nachdem selbst konservative Hinterbänkler dieses System als „wahnwitzig“ kritisiert hatten, taute die Eiserne Lady auf einer Krisensitzung des Kabinetts am Dienstag etwas auf: Diese Woche soll es die fünf Pfund in jedem Fall geben, selbst bei einsetzendem Tauwetter. Schließlich spielt Frau Thatcher mit dem Gedanken, im Frühjahr wählen zu lassen, und erfrorene Rentner wählen eben nicht mehr konservativ. An dem grundsätzlichen skandalösen System lächerlicher Heizzulagen für die Wintermonate, so kommentierte ein Sprecher von „Help the Aged“, ändere diese auch noch als Großzügigkeit verkaufte Ausnahmeregelung allerdings nichts.

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