: In den Jahren der Buße gibt es Reisen, die man nicht vergißt
■ Zwischen den Orten, zwischen den Menschen: Bahnhöfe, Eisenbahnabteile, Hotels mit ihren Frühstückszimmern / Geschichten vom Alleinsein beim Reisen und von Männern nah und fern
Von Maria Neef-Uthoff
I.
Manchmal finde ich das Paradies. Es fühlt sich immer sicher und unendlich an. Der Regen kann das Paradies sein, am frühen Morgen in einem Berliner Hinterhof mit einem Kastanienbaum. Und dann nichts als eine Wand neben sich und auf der anderen Seite ein großer, schlafender Mann. Und dieser kleine Platz zwischen Wand und Mann ist mein Zuhause. Und der Regen segnet unsere Füße, weil das Fenster offen ist. Und wenn das Haus zusammenbricht, die Welt untergeht, warum ist das so dumm für die anderen. Nicht zu verstehen ist das.
Die Sorgen, die sich jemand im Radio macht, so unverständlich. Schöne, kleine Welt. Das ist es, was mich auf die Campingplätze zieht. Ein überschaubar eingeteiltes Stück Leben. Alles hat seine Grenzen. Auch der Wind fegt nicht immer den Horizont frei. Das Abgetrennte will ich wiederhaben. Gott hat eine Strafe über mich verhängt. Weil du das Paradies gesehen hast, mußt du durch die Hölle gehen. In den Jahren der Buße gibt es Reisen, die man nicht vergißt. Der merkwürdige Zusammenhang zwischen Liebe und einem kahlen Berg in der Provence. Schon der erste Blick macht mir weiche Knie.
II.
Mit dem Intercity von Köln nach Hannover. Es ist Abend. Ein Abteil wie im Flugzeug. In der Mitte Tische. Ich schreibe in ein Buch. Mir gegenüber sitzt ein Mann. Noch liest er. Irgendetwas gibt Anlaß zum Lachen. Augen, die sofort ineinander passen. Weglachen. Zuneigung, die hier offensichtlich sein darf. Ein Gespräch, das kluge Aufmerksamkeit zeigt. Ohne Mißtrauen in rasender Eile wächst ein Glück. In den Augen des anderen schwimmen und den eigenen gescheiten Worten lauschen. Jeder gibt etwas zum Nichtvergessen. Drei Stunden lang auch Abschied. Ein flüchtiger Kuß. Ich bleibe zurück. Bis zum Endbahnhof ist es noch eine gute Stunde.
III.
Tage auf der Eisenbahn. Zwischen den Orten, zwischen der Zeit und zwischen den Menschen. Hinter den Fenstern ist die Welt unbescholten und rein. Und sie ist in Gang. Gepflegte, kleine Gärten, die vor sich hinwachsen. Lichter, die anundausgehen. Schiffe, die den Fluß hianuf- oder hinabfahren. Seitlich von der Landstraße her ein Auto, das keineswegs in den Zug knallt, nein, es verschwindet einfach unter einem Tunnel. Durch ein Zugfenster betrachtet man die Welt von außen. Aber was ist innen. Es sind die dunkelroten Polster, die Schuhe und Strümpfe eines Gegenüber; die zerteilte, tropfende Apfelsine, das fieberheiße Kind, die kurzfristig entflammte Leidenschaft, das Nichthinsehnbrauchen, weil alles gleich vorüber ist, es ist die falsche Freundlichkeit, weil man nicht entrinnen kann, es ist das Sichbreitmachen auf mehreren Polstern, obwohl der Zug überfüllt ist, es ist der widerspruchlose Ärger, das unterdrückte Mißtrauen, die fest an sich gepreßte Tasche, die Furcht vor dem Ankommen.
IV.
Nimm allein in einem Hotel ein Frühstück zu dir. An eng beieinandergestellten Tischen oder mit einem einsamen Gegenüber. Zwei bleiche Wurstscheiben und ein achtel abgepackten Streichkäse, Schinkengeschmack. Immer geradewegs am Gesicht des Gegenübers vorbeigekaut. Manchmal treffen sich die Hände im gemeinsamen Brötchenkorb.
In diesen Frühstückszimmern gibt es selten Lachen. Sie sind zu eng und zu intim für einen fremden frühen Morgen. Zuviel weißes Tischtuch, zuviel Mühe, als etwas Besseres zu gelten, zuviel steif gemachtes Rückgrat beim Brötchenaufschneiden. Imitierte Antiquitäten, die von der Wirtin luchsäugig bewacht werden. Mißbilligendes Ignorieren bei dem Versuch, eine zweite Portion Kaffee zu bekommen. Auch die Bitte um zweimal Milch kostet Überwindung. Froh, die Rechnung bezahlen zu können. Es soll Leute geben, die pinkeln nachts aus dem Hotelfenster oder mißbrauchen das Wasch becken. Auch in den feudaleren Hotels frühstückt man unter ständiger Beobachtung. Hier stehen die Tische weiter auseinander, es gibt Buffets zum Selber-Nehmen mit hauchdünn geschnittener Mortadella. Cognactrinkende Männer reden um diese Zeit schon zu laut. Verschlafene Paare tun ganz normal. Sie holt ihm am Buffet das Frühstück zusammen. Parteitage, Gewerkschaftstage, Gesprächsfetzen, und alle lesen die FAZ. Natürlich kann man sich drei Brötchen zum Mitnehmen machen und neben den Teller legen. Und die Karaffe mit Orangensaft wird rechtzeitig nachgefüllt. Vor dem Fenster rauscht der ortsansässige Fluß vorbei. Einmal steige ich an der nächsten Station aus. Es ist früher Nachmittag. Ich nehme meine Tasche mit dem Schreibzeug, dem Kriminalroman, den Schlüpfern, dem Waschzeug und der Schmusedecke und verlasse den Zug in dieser x-beliebigen Gegend.
Auf dem Bahnsteig fegt ein Wind, und ich zurre mir den Schal enger um den Hals. Hinter mir klappen die Türen zu, der Zug fährt weiter. Die wenigen Leute verlassen den Bahnsteig, die Bahnbeamten gehen zurück in ihre Häuschen. Vor dem Bahnhofsgebäude nimmt mich niemand in Empfang. Ein einziges Taxi fährt vorbei, links ist eine Bushaltestelle. Ich schultere meine Tasche und mache mich auf den Weg. Einige Meter vor mir läuft ein schwarzer Hund. Ich folge ihm. Die Straße ist naß und glänzt. Der Hund führt mich zu einem ärmlichen Hotel. Mein Gesicht ist kalt, und meine Nase fühlt sich taub an. Sicher ist sie wieder knallrot. Vor dem Hotel streiten sich zwei Betrunkene. Der eine hat eine zerbrochene Flasche in der Hand, der andere blutet. Ich sitze drinnen in einer Ecke und trinke eine Cola. Resopaltische und Neonlicht und eine Jukebox und Glücksautomaten. Und ein paar Zimmer für die Nacht.
Wenig Leute sind hier, einige Arbeiter in ihren Overalls und den müden Gesichtern. Ich bin frei. Neben mich setzt sich ein Küchenmöbelvertreter. Er sei auch nicht aus der Gegend, sagt er. Der Küchenmöbelvertreter ist klein und rund. Zu Hause hat er drei Kinder. Er will mich unbedingt zu einem Schnaps überreden. Draußen ist die Luft schwer. An einer Litfaßsäule wird vom Berliner Arbeitsamt geworben. Ein Mann mit einem Klumpfuß betritt ein Schuhgeschäft. Ziellos wandere ich durch den Ort. Ich friere an den Händen. Meine Füße sind kalt und naß. Beinahe hätte mich ein Auto überfahren. Die Ampel war rot, und als ich die Straße betrat, beschleunigte das Auto absichtlich. Kinder lachen mich aus. Mir kommt der Kölner Bahnhof in den Sinn.
Aus einem der Bahnhofsrestaurants bin ich letzten Sommer rausgeschmissen worden. Penner bedienen wir nicht. Es war heiß, und ich kam mit einem Schiff aus England. Aber die Schiffe hatten gestreikt, so daß ich drei Tage unterwegs war. Die einzigen sauberen Kleidungsstücke waren weiße gewesen. Die hatte ich in England angezogen. Auf dem Victoria Station hatte ich noch mal geduscht. Tagelang nur auf Bahnhöfen und jetzt in Köln wieder einen halben Tag. Zu müde, um irgendwo anders hinzugehen. Meine schöne cremefarbene Trödelbluse hatte unter dem Arm einen langen Riß. Penner bedienen wir nicht. Daß der Kellner ein Gastarbeiter war, machte die Sache irgendwie schlimmer.
Ich könnte zu Hause anrufen. Ich könnte mich von einem Mann ansprechen und mitnehmen lassen. Ich müßte das richtige Gesicht machen und die richtige Körperhaltung einnehmen. Ich müßte wieder von unten nach oben blicken und mich an die Spielregeln halten. Ich müßte in eine Kneipe gehen. Diesmal ist es der Kellner. Ich sehe ihn von unten nach oben an und lächele. Von ihm laß ich mich zu einem weiteren Bier einladen. Er hat einen hübschen Po. Aber er pokert unendlich lange. Zu lange für mich.
V.
Eigentlich fing es nicht mit Lauren Bacall an. Obwohl es hinterher so aussah. Mit einem Mal waren die trüben Wochen vorbei. Dabei hatte sich der Wind nicht gelegt. Das Wasser rauschte wie wild vom Himmel. Alle Leute hatten Schnupfen und Husten.
Und mir war immer noch schwindelig, und ich fürchtete mich, in Gesichter zu sehen. Vor allem Augen hatten es mir angetan. Die ängstigten mich wie freigelassene Leoparden. Und auf dem Bahnhof mußte ich mich ge gen eine Säule lehnen. Zu Hunderten kamen sie die Treppe hinunter und sahen mich an. Ein einziges Bier wollte ich trinken. Und der schönen Wirtin eine gute Nacht wünschen.
Das ganze Hotel ist voller Männer. Männer, Männer, Männer, Männer. Ich fürchte mich vor Männern. Und von dem Tisch zur linken sind laute Stimmen zu hören. Einen Cognac soll ich mit ihnen trinken. Wer bin ich denn heute, daß ich das Angebot von vorneherein ablehne.
Noch ist die Wirkung von Lauren Bacall nicht gänzlich verpufft. Noch bin ich neugierig und unternehmenslustig. Ja, ich will euren Schnaps. Gebt mir her und nicht zuwenig. Ich betrachte meine schönen Hände an dem Cognacglas. Noch einen? Okay Baby, tu mir noch einen rein. Es gibt nichts zu strahlen. Der eine gefällt mir nicht. Dummes Zeug, das er redet. Ein Holländer. Einer, der das Militär liebt und seine Sprache angepaßt hat. Kasernenhofton mit rollenden, harten Lauten.
Ich verstehe ihn kaum. Ich frage ihnen Löcher in den Kopf, und brav wie die Schulbuben antworten sie mir. Je unverschämter man fragt, desto eher antworten sie. Auf die Weise weiß ich nach einer halben Stunde mehr über sie, als sie selbst wissen. Mich fragen sie gar nicht. Das sind sie nicht gewöhnt. Oder es interessiert sie nicht, weil ich eine Frau bin. Nur: Ob ich verheiratet bin und ob ich ein Kind habe. Und wo mein Mann jetzt ist. Und meine ausweichenden Antworten scheinen genug zu sein. Nichts wollen sie wissen, diese Männer. Nichts. Es besteht eine eigenartige Spannung zwischen dem Holländer und dem anderen. Der anderes ist Kunsthändler und lebt in Rom. Seit zwanzig Jahren sind sie Freunde. Treffen sich zweimal im Jahr in irgendeiner europäischen Stadt. Aber sie fahren sich dauernd über den Mund, und jeder erklärt den anderen für blöde. Wobei sie mich ansehen.
Beide wollen mir gefallen, das gefällt mir. Dieser Kunsthändler ist etwas gelblich und mit geilem Mund. Keine Leoparden mehr. Dazu ist die Nacht zu weit fortgeschritten. Ab drei Uhr trinken wir Champagner. Wieso hatte ich das vergessen? Einen Kübel mit Eis und nochmal Champagner und dazwischen Austern, und ich bin so charmant und klug wie selten. Das linke Ohr küßte der Kunsthändler, das rechte der Holländer. Der eine weich und schmalzig, der andere faßt mir ins Haar, und die Finger drücken am Hinterkopf, und er flüstert etwas. Der Kunsthändler macht weiche Laute an meinem Ohr und küßt und näßt jetzt seinerseits so sehr, daß sich meine Arme mit Gänsehaut überziehen. Alle Wünsche wollen sie mir erfüllen, ich solls nur sagen. Ach, wenn ich doch welche hätte. Sie sollen nur weitermachen mir ihren Händen, und ich will nichts tun außer klug daherreden und ab und zu ein bißchen stöhnen.
VI.
Am nächsten Morgen ist alles wieder geregelt. Ich sitze im Zug. Ein Jugendlicher hält mir einen Fensterplatz frei. Ich bin wieder unterwegs. Selbst der Speisewagenschaffner macht ein freundliches Gesicht. Zuerst lerne ich eine Volkshochschulleiterin kennen. Dann eine Mutter mit vier Söhnen. Zwei schwule Männer, die sich mit mir vier Apfelsinen teilen und lieber nachts fahren. Eine Frau mit einem Säugling. Mit einer alten Frau streite ich mich. Hinterher essen wir zusammen Schokolade. Und dann bin ich wieder auf dem Kölner Bahnhof, den halben Tag schon kann ich mich nicht entschließen, in den Dom zu gehen.
Dabei fällt mir der Frankfurter Bahnhof ein, wo ich mal gebadet habe, weil mich vierzig Grad Fieber schüttelten, oder der Bahnhof in Duisburg, wo ich mit den Fahrkarten nicht zurechtkam und goldzahnblitzende Männer mir in schwierigem Deutsch den Automaten erklärten und mich hinterher ungefragt zum Bahnsteig begleiteten. Oder der Bahnhof in Augsburg, wo ich mich an Würstchen überfressen habe. Oder der Bahnhof in Saarbrücken, wo man mich wiedererkannte. Und in Hamburg, als mir die Liebe so schwer im Magen lag. Und der Braunschweiger Bahnhof, für den ich eine sentimentale Zärtlichkeit hege. Und dann der Düsseldorfer Bahnhof. Mein Bahnhof, wo mich vor bald 20 Jahren meine Mutter mit einem Stockschirm verabschiedet hat. Oder Hannover, dieses Riesenmonstrum mit seinen unterirdischen Gängen und der Gitarrenmusik. Und nicht zuletzt der Bahnhof von Fürth, wo ich immer abgeholt werde.
Ein Bahnhof ist ein langweiliger Ort. Schließfach auf, Schließfach zu. Zeitung kaufen. Telefonieren. Kaffee trinken. Fahrplan lesen. An der Information anstehen. Ansichtskarten angucken. In den Jackentaschen suchen. Paß. Schecks. Fahrkarten. Adressen. Vor allem Adressen.
VII.
Alleine dorthin reisen, wo es sonst nur Familien gibt. In den Winterorten einen „Traum am Schwanz packen“ (Doris Lessing), alleine, ohne zu reden, skifahren, hier ist kein Platz für alleinstehende Damen. Trotzig in den Nebeln schwelgen, die bis auf den Boden hängen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich schwarze und weiße Flecken und dazwischen lauter Familien. Die Leute in den Gaststätten rücken mir zu nahe. Das Fett ihrer Sonntagsrouladen tropft mir auf die Hand. Hier gibt es zusammengedrückte Paare, die sich ängstlich an die Speisekarte klammern, weil du am Tisch sitzt. Die modernen Alleinstehenden fahren nicht in solche österreichischen Wintersportorte mit billigen Pensionen. Schade. Ich würde gerne mit jemandem reden, manchmal beim Essen, und dann wieder alleine sein. So schön in diesem Schnee, wenn man beim Skifahren anhält und nichts hört außer Natur, nichts sich bewegen sieht, nur strenge, sonnenglänzende, weiße Berge.
Das sind Vergnügungen, die, wenn sie billig sein sollen, so abenteuerlich sind wie die Reise mit einer Gruppe durch den Himalaya. Den Selbstbehauptungskampf gegen alle die, die anders aussehen und in deren Vorstellung so jemand wie ich nicht hineinpaßt, ist anstrengend und macht mutig. Der Schnee fällt in großen, weichen Flocken.
Ich bin mitten auf meinem Weg und kenne ihn nicht. Mit letzter Kraft diesen Berg hoch. Noch eine Biegung, noch eine und noch eine. Immer nasser, immer schöner. Mein Nylonanorak, meine Hosen, alles durch und durch naß und kalt. Aber so schön. Immer wieder der Wildbach, immer süßer und klarer und kleiner. Und oben ist für einen Augenblick die Landschaft, die Welt nur für mich da. Ganz allein für mich.
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