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Irlands düstere Perspektive am Wahltag

■ Arbeitslosigkeit und Auswanderung sind die beherrschenden Themen in der Republik Irland, in der heute gewählt wird / Hoffnung auf Besserung der katastrophalen Wirtschaftslage der Insel am Rande Europas haben allerdings nur die Politiker / Meinungsumfragen sehen die Opposition von Ex–Premier Haughey deutlich vorn

Von Michael Fischer

Berlin (taz) - Lange Schatten werfen die Guiness–Gläser auf dem zerfurchten Holztresen der Farewell–Bar in der untergehenden Sonne eines der seltenen irischen Wintertage, an denen es nicht regnet. Der Wirt sitzt am offenen Kamin und spielt Gitarre. Die wenigen Gäste kuscheln sich an das wärmende Feuer und lauschen der traurigen Ballade, die der Wirt zum besten gibt. Er singt von einem jungen Mann, der aus Not nach Amerika auswandern muß, dabei aber von seiner zurückgelassenen Liebe träumt. Zuletzt hält er es in der Fremde nicht mehr aus und kommt zurück. Seit rund 200 Jahren wird in irischen Pubs dieses Lied gesungen, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Wie schon ihre Vorfahren suchen auch heute wieder viele Iren ihr Glück in der Fremde, da es um ihr Zuhause schlecht bestellt ist. Die wirtschaftlichen Aussichten Irlands sind schlechter als jemals in den letzten 25 Jahren. Der Staat steht kurz vor dem Bankrott. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei über 18 Prozent, die Auswanderungsquote steigt von Jahr zu Jahr. Verließen 1984 noch etwa 20.000 Menschen das gebeutelte Land, so sollen es letztes Jahr schon doppelt so viele gewesen sein. Die Politiker stehen der Krise hilflos gegenüber. Die Regierungskoalition unter Premierminister Garret FitzGerald hat in den letzten Jahren ihren Kredit verspielt, weswegen das irische Parlament am Dienstag neugewählt wird. FitzGerald hatte vor vier Wochen Neuwahlen ausschreiben lassen müssen, nachdem die vier Minister des kleinen Koalitionspartners, der irischen Labour– Partei wegen eines Streits über Haushaltsfragen und drastischer Sozialhilfekürzungen zurückgetreten waren. Das irische Parteiensystem ist etwas verwirrend, hauptsächlich weil die beiden wichtigsten Parteien ähnlich lautende Namen haben und beide eine fast gleiche, konservative Politik betreiben. Unterschiede zwischen ihnen gibt es eigentlich nur in ihrer Haltung zu dem irischen Erzfeind England: die Regierungspartei, die „Fine Geel“, zu deutsch: Stamm der Iren, ist weniger englandfeindlich als die „Fianna Fail“, zu deutsch: Soldaten des Schicksals, des Oppositionsführers Charlie Haughey. Deneben gibt es noch die „Sinn Fein“–Partei, den politischen Arm der IRA–Untergrundkämpfer. Bei den letzten Nachwahlen gewann die bislang unbedeutende „Sinn Fein“ so viele neue Wähler, daß die Politiker der großen Parteien nun befürchten, „Sinn Fein“ werde in Zukunft das Zünglein an der Waage spielen können. Große Sorge bereitet den etablierten Parteien auch die neugegründete Progressive Demokratische Partei, die einen harten wirtschaftlichen Reformkurs propagiert. Die irische Yuppie–Partei, wie die Neugründung von Kritikern genannt wird, lag bei Wählerumfragen in den letzten Wochen gut im Rennen. Die oppositionellen „Soldaten des Schicksals“ erhalten bei Meinungsumfragen seit über einem Jahr Wähleranteile um die 50 Prozent, die Regierungsparteien lagen im Januar zusammen bei ganzen 30 Prozent, ein deutliches Zei chen für die Unzufriedenheit der Wähler. Aber auch der Opposition wird nicht viel Vertrauen entgegengebracht. Erdrückende Staatsverschuldung Die staatliche Verschuldung bedrückt das Land enorm. In den siebziger Jahren, als die irische Wirtschaft expandierte, wurde das Beamtenheer gewaltig vergrößert. Die Steuern wurden gesenkt und das eigentlich immer noch arme Land wurde zu einem Sozialstaat nach westeuropäischem Muster ausgebaut. Parallel dazu stieg die Staatsverschuldung. Das alles sollte aus dem allgemeinen Wachstum der Volkswirtschaft zurückgezahlt werden. Doch das Wachstum ließ zu wünschen übrig. Ab 1979, als die Ölpreise auf das Zweieinhalbfache stiegen, setzte auch in Irland eine große wirtschaftliche Rezession ein, von dem sich das Land bis heute noch nicht erholt hat. Seitdem ist der Schuldenberg von Jahr zu Jahr größer geworden. Überraschend ist auch die Tatsache, daß die Verschuldung des kleinen Irlands mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern größer ist als die von den sonst immer genannten großen Schuldnerländern wie Mexiko oder Argentinien, jedenfalls Pro–Kopf gerechnet, aber Pro–Kopf gerechnet muß ja auch zurückgezahlt werden. Tatsächlich gibt es in der ganzen Welt nur ein Land, das Pro–Kopf gerechnet höher als Irland verschuldet ist, nämlich Israel. Mittlerweile wird fast jedes vierte irische Pfund im Staatshaushalt bloß für Schuldzinsen ausgegeben. Aber die Schuldenlast ist nicht der einzige Klotz am Bein der irischen Volkswirtschaft. Viel unmittelbarer ist die Arbeitslosigkeit zu spüren. In den letzten sieben oder acht Jahren hat sie sich fast verdreifacht. Ende 1986 wurden erstmals eine Viertelmillion Arbeitslose registriert, fast genau jeder fünfte Erwerbsfähige ist mithin ohne Arbeit. Die Politiker sind angesichts der Arbeitslosigkeit so hilflos, daß sie in letzter Zeit sogar öffentlich von dem angeblichen Nutzen der Auswanderung sprechen. Immerhin spart der Staat dann Arbeitslosen– und Fürsorgegelder. Aber es wird für die Iren immer schwieriger, in die traditionellen Auswanderungsländer zu gehen. Nach England gibt es zwar keine Beschränkungen, aber in die USA kommen Iren meist nur noch illegal hinein, auch Australien und Neuseeland haben strikte Einwanderungsvorschriften. Der logische Ausweg scheinen darum die anderen Länder der Europäischen Gemeinschaft zu sein. Staatsminister George Birmingham schlägt konkret vor, daß die Schulen den Fremdsprachenunterricht verstärken sollen, damit die Auswan derung auf den Kontinent leichter wird. Liberalisierungsprozeß gescheitert Im Norden Europas ist Irland das einzige katholische Land, über 95 Prozent der Iren sind in der katholischen Kirche. Die irische Bischofskonferenz ist so einflußreich, daß sie praktisch den Inhalt der Gesetze über die Sexualmoral bestimmt. Noch immer gibt es keine Scheidung, die Abtreibung ist verboten, Homosexualität wird bestraft. Immerhin kam Premierminister FitzGerald mit dem Versprechen ins Amt, Irland müsse eine pluralistische Gesellschaft werden. FitzGerald wollte damit auch dem Mißtrauen der nordirischen Protestanten gegen einen katholisch–beherrschten Staat entgegenkommen. Zwei schwere Niederlagen hat FitzGeralds Regierung hier hinnehmen müssen, beide in Volksabstimmungen. 1983 setzten katholische Fundamentalisten durch, daß die Abtreibung in der Verfassung verboten wurde. Für die Praxis war das bedeutungslos, denn die Abtreibung war auch vorher schon gesetzlich verboten, aber jetzt steht es auch noch in der Verfassung. Kurz vor Weihnachten hatten die Gegner einer Abtreibung noch einen weiteren Erfolg. In Dublin gibt es zwei private Beratungsstellen für Frauen, die häufig von jungen schwangeren Frauen aufgesucht werden. Den oft verzweifelten Hilfesuchenden wird erklärt, wie sie mit ihrer Schwangerschaft umgehen können. Als eine Möglichkeit wird regelmäßig genannt, mit der Fähre nach England zu reisen und dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Adressen von Abtreibungskliniken werden den Frauen an die Hand gegeben. Auf Antrag der konservativen „Gesellschaft für den Schutz ungeborenen Lebens“ hat das Dubliner Obergericht den beiden Beratungsstellen nun verboten, diese Adressen zu nennen. Eine Revision des Urteils steht zur Verhandlung an. Noch wichtiger als die Abtreibungsdiskussion war die Volksabstimmung im vergangenen Jahr über die Einführung der Ehescheidung. Die Regierung trat dafür ein, die katholische Kirche emp fahl dringlich, die Scheidung nicht zuzulassen. Über 60 Prozent stimmten mit Nein. Viele Zehntausend Ehepartner, die getrennt leben, können das Scheitern ihrer Ehe weiterhin nicht klären; und wenn sie mit neuen Partnern zusammenleben, so können sie diese doch nicht heiraten: in dieser konservativen Gesellschaft ist das ein deutlicher Makel. Abgesehen von Andorra und Malta bleibt Irland das einzige europäische Land, wo es keine Ehescheidung gibt. Auf dem Wege der Rechtsliberalisierung hat die Regierung nur einen einzigen Erfolg erzielen können: vor zwei Jahren erlaubte das irische Parlament, daß alle Personen über 18 Jahren frei Verhütungsmittel kaufen dürfen. Bis dahin war dies nur für Ehepaare auf ärztliche Verordnung möglich. Inzwischen sollen zwei Drittel aller Apotheken Verhütungsmittel vorrätig haben, die übrigen verweigern den Verkauf aus Gewissensgründen. Brennpunkt Nordirland Wenn man von Nordirland spricht, so denken die Iren immer nur an die Unruhen, die 1968 mit den Bürgerrechtsmärschen begannen. Mehr als 2.500 Menschen sind seitdem aus politischen Gründen umgebracht worden, einige Zehntausend verletzt und verstümmelt worden. Dem alten Traum von der nationalen Wiedervereinigung ist man jedoch nicht näher gekommen. Die beiden großen irischen Parteien unterscheiden sich vielleicht am stärksten darin, wie sie sich eine Lösung der verfahrenen Situation im Norden der Insel vorstellen. Regierungschef FitzGerald tritt seit langem dafür ein, daß Dublin und London zusammen für eine Versöhnung zwischen der protestantischen Mehrheit und der katholischen Minderheit in Nordirland arbeiten müssen. Nach Jahren der diplomatischen Verhandlungen unterzeichnete er darum im November 1985 das anglo–irische Abkommen. Zum ersten Mal seit der Teilung der Insel vor über 60 Jahren erhielt die irische Regierung damit ein begrenztes Mitspracherecht im Norden. Das ist kein Recht zur Mitentscheidung, aber in einem gemeinsamen britisch–irischen Rat hat Dublin die Möglichkeit, die Klagen der katholischen Nationalisten gegen Benachteiligungen vorzubringen. Die Protestanten des Nord ens sehen darin eine Bedrohung ihrer Privilegien und protestieren unter Führung des unionistischen Eiferers Ian Paisley heftig gegen dieses Abkommen. Konkrete Erfolge sind mit dem Vertrag bisher noch nicht erreicht worden. Trotzdem hält die irische Regierung den Abschluß des Abkommens für ihren wichtigsten Erfolg. Die „Fianna–Fail“–Opposition hat im Parlament gegen das Abkommen gestimmt. Sie behauptet, die Regierung habe den irischen Anspruch auf die Einheit Irlands aufgegeben. Aber so sehr man auch bei einem Glas Guinness über Nordirland streiten kann, für die Wahlentscheidung spielt der Norden wohl doch keine Rolle. Zu sehr hat sich jedermann an die fast täglichen Schreckensmeldungen gewöhnt. Für die Menschen in der Republik geschehen die sektiererischen Morde und Mordanschläge eben im Norden, sie betreffen sie nur indirekt. Irland und die EG Eine größere Rolle spielt das Verhältnis Irlands zur Europäischen Gemeinschaft. Zusammen mit Großbritannien und Dänemark trat Irland der Gemeinschaft im Jahre 1973 bei. Seitdem hat besonders die irische Landwirtschaft von den Brüsseler Töpfen profitiert, aber die Brüsseler Kommission hat auch ihre Beiträge zu Straßenprojekten, Infrastrukturmaßnahmen und zur Berufsausbildung geleistet. Über drei Milliarden Mark sind in den letzten dreizehn Jahren netto nach Irland geflossen. Darum sind die Iren grundsätzlich eurofreundlich, viel mehr als zum Beispiel ihre britischen Nachbarn. Aber sie haben ein besonderes Problem mit der Gemeinschaft. Als einziges Land in der Europäischen Gemeinschaft ist Irland nicht Mitglied in der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft NATO. Die Iren halten bewußt an ihrer Tradition der militärischen Neutralität fest. Nur mit Zögern und gegen die Stimmen der Opposition hat das irische Parlament kurz vor Weihnachten die „Europäische Einheitliche Akte“ ratifiziert. Diese Akte hat mehrere Ziele. Einmal soll das Europäische Parlament in Straßburg mehr Mitspracherecht erhalten, zum zweiten sollen im Ministerrat, in dem alle wichtigen europäischen Entscheidungen getroffen werden, in Zukunft grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen gelten, so daß ein einzelnes Mitgliedsland nur noch in Ausnahmefällen ein Veto einlegen kann. Zum dritten legt die Akte die Grundlage für einen vollständigen Binnenmarkt in Europa, bis Ende 1992 sollen alle noch vorhandenen Handelshemmnisse fallen. Aber über alle diese Fragen ist in Irland wenig debattiert worden. Stattdessen hat sich der Meinungsstreit darauf konzentriert, ob in der Gemeinschaft künftig auch über militärische Sicherheitsfragen entschieden wird. Das würde nämlich Irlands Neutraltitätspolitik in Frage stellen. Das Parlament hat die „Einheitliche Europäische Akte“ ratifiziert. Aber ein Rechtsanwalt namens Crotty hat Klage eingelegt, weil nach seiner Meinung die Ratifizierung die irische Verfassung verletzt. Das gerichtliche Verfahren über diese Klage ist noch nicht abgeschlossen. Präsident Hillery hat zunächst einmal die Unterzeichnung verschoben. Alle anderen Mitgliedsstaaten haben fristgerecht bis Ende 1986 ratifiziert. Es kann durchaus sein, daß der Oberste Irische Gerichtshof das Ratifizierungsgesetz in den nächsten Wochen für ungültig erklärt. Dann müßten die Iren über das Gesetz abstimmen. Falls sie sich gegen die Akte aussprechen, könnte dies im extremsten Fall zum Austritt Irlands aus der Europäischen Gemeinschaft führen. Regierungswechsel wahrscheinlich Der Wahlkampf war kurz, vier Wochen hatten die Parteien Zeit. Die Regierungspartei „Fine Gael“ warb für Sparsamkeit und Solidität. Die Oppositionspartei „Fianna Fail“ hatte schon seit Wochen ein Plakat an den Wänden und Reklametafeln kleben, auf dem drohend gefragt wird: „Ist Auswanderung der einzige Weg aus der Misere?“ „Fianna Fails“ Antwort lautet natürlich: „Es gibt einen besseren Weg, unsere Partei.“ Die Meinungsumfragen geben „Fianna Fail“ einen sehr deutlichen Vorsprung. Wahrscheinlich wird der Führer der Partei, Charlie Haughey, die nächste Regierung bilden. Haughey ist schon zweimal irischer Premierminister gewesen, einmal für fast zwei Jahre und 1982 bloße acht Monate. Er verspricht Vollbeschäftigung und eine glänzende wirtschaftliche Zukunft. Doch auch der Zweckoptimismus des Oppositionsführers und voraussichtlich zukünftigen Premierministers ist für die meisten Wähler weniger beruhigend. Sie haben das Vertrauen in die Politiker verloren. Selbst die massive Wahlpropaganda der letzten Wochen hat keine neuen Hoffnungen wecken können.

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