: JOCHEN STEFFEN schreibt für die taz Opferung einer Stimmtruppe
Also, das EG–Jubiläum bietet den Europa– Ideologen wenig Grund zum Jubel. Die Zielvorstellung der politischen Integration ist auf die Nuß gesegelt. Dort sitzt sie fest. Der Wirtschaftsentwicklung - und in der Folge die der sozialen Struktur - droht das gleiche Schicksal. Selten wurde das Gleiche so verschieden bewertet. Je größer die staatliche Zersplitterung in einem großen Markt, um so besser für die große Wirtschaft. Das bedeutet geringere staatliche Kontrollmöglichkeit gegenüber dem Kapital, und größere Manipulationschancen der Wirtschaft in bezug auf die Staaten und die meist national bornierten, organisierten Gruppen– und Klasseninteressen. Genau umgekehrt ist die Interessenlage bei der Frage: Stagnation oder Weitergehen bei der übernationalen Marktöffnung in Europa. Vor allem für die deutsche Industrie. 70 Prozent ihrer Exporte geht inzwischen in die EG, ist (beinahe schon) Binnenhandel. Käme es hier zum Stillstand oder gar Rückschritt, wäre das schlimm für die Geschäfte, die Folgen für Politik und Gesellschaft kaum absehbar, auf jeden Fall steinhart. Will die bundesdeutsche Wirtschaft weiter europäischen Profithonig saugen, müssen gewisse soziale Opfer gebracht werden. Das ist die uralte Kehrseite der Medaille des Wirtschaftswachstums. Je größer der Markt, je größer die Unterschiede durch Standort, Klima und Ressourcen, um so größer die sozialen Veränderungen. Je schneller die Marktöffnung und je schneller die wissenschaftliche, technische Entwicklung, um so schneller der gesellschaftliche Wandel. Wir haben es erlebt, hingenommen und wurden mit steigenden Realeinkommen entlohnt. Die Schläge für die Betroffenen würden mit Steuermitteln „sozial abgefedert“. Die Pikanterie des heute anstehenden Sozialopfers steckt darin, daß der Kern der „bürgerlichen“ Stimmtruppen - die Bauern - zu etwa Zweidrittel aus der Produktion heraus müssen. Sie wurden für ihre positive Europagesinnung bisher gut entlohnt. Sie erhielten Preis– und Absatzgarantien, hohe staatliche Zuschüsse zur Sozialsicherung, zu Krediten und gewaltige Steuernachlässe. Der deutsche Steuerzahler entrichtet jährlich - vorsichtig gerechnet - 40.000 DM pro Bauernhof. Teilweise für Maßnahmen, die den wirtschaftlichen Grundgedanken der EG diametral entgegengesetzt sind. Die Folge ist eine gigantische Überproduktion. Sie wächst ebenso wie die Folgekosten. Die Bauern sind Unternehmer, haben Vermögen und sollten sich - laut Marktwirtschaftsphilosophie - risikofreudig auf dem Markt Konkurrenz machen. Sie werden aber gestützt und zu Lasten der Gesellschaft finanziert, wie es abhängig Beschäftigte nicht zu fordern wagen. Zahlt den wegrationalisierten Stahlkochern, Werftarbeitern, Kumpels ein Jahresgehalt von 40.000 DM aus Steuermitteln! Daran denkt niemand. Es handelt sich um Arbeiter, nicht um Unternehmer. Die große deutsche Wirtschaft - immer bereit, die konservative bis reaktionäre, bäuerliche Stimmtruppe zu Lasten des Konsumenten zu finanzieren - muß sich von ihrer ältesten politischen Hilfstruppe verabschieden. Sie wird zu teuer. Ihre (weitgehend sinnlose, überteuerte ) Produktion gefährdet nicht nur Boden und Wasser - das ertrüge die Industrie ebenso mannhaft wie ihren Verdienst daran und ihre eigenen Leistungen auf diesem Gebiet -, sondern auch das Wachstum des Europa– Exports. Ferner verknappt sie die Mittel für die ständig weitergehende, immer teurer werdende Automatisierung. Um Stimmennachwuchs für seine Politik braucht sich das große Kapital nicht zu sorgen. Offensichtlich ist die Mehrheit der Bevölkerung einverstanden mit der Vergrößerung der Schere zwichen Armen und Reichen (weltweit), dem Wachstum der „neuen Armut“ bei den Reichen und dem des ökologischen Drucks. Notfalls helfen Gewerkschaftsführer, wie der liebe Rappe von der IG Chemie, und Augenwischereien wie der neue Beruf des „Landschaftspflegers“ statt dem des Bauern. Den Beruf kann man durchaus gebrauchen. Aber bei weitem nicht alle Bauern, die rausfliegen werden. Dazu sind es zu viele. Über den Daumen 210.000 Vollerwerbsbetriebe.
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