: Die Opfer des Atomzeitalters wehren sich
■ Fünftägiger Kongreß „Radioaktivität und Gesundheit“ am Montag in Amsterdam zu Ende gegangen / Nach Tschernobyl Geburteneinbruch in Polen / 14.000 Tote zu viel in den USA / Indianerin berichtet vom Leben des Shoshonen–Volkes nahe dem Atomtestgebiet in Nevada
Aus Amsterdam M. Kriener
„Was ist das?“, fragte die kanadische Strahlenforscherin Rosalie Bertell und hält die Farbaufnahme eines riesigen Atompilzes in die Luft. Die Antwort gibt sie selbst: „Das ist ein unterirdischer Atomtest in Nevada aus den 70er Jahren.“ Der Test war „durchgebrochen“, aus der Tiefe des unterirdischen Tunnelsystems war der Atompilz durch die Erde gekrochen. Der radioaktive Fall–out wurde mit dem Wind in die Atmosphäre verteilt, um irgendwann, irgendwo unbemerkt wieder abzuregnen. Dieser Unfall ist keine Ausnahme. Regelmäßig wird bei unterirdischen Atomwaffentests Radioaktivität „freigesetzt“. Die Erde wölbt sich dann wie ein Teig, der Blasen wirft und läßt Dampf ab. Außerdem, so berichtete der amerikanische Physiker und Pionier der Strahlenforschung, Ernest Sterngluss, werde das unterirdische Testfeld regelmäßig „belüftet“, die Radioaktivität werde bei günstigen Windrichtungen in dünn besiedelte Gebiete geblasen. Opfer der Atomwaffentests in Nevada sind unter anderem das Volk der Shoshonen und die übrige Bevölkerung von Nevada, deren Lungenkrebsrate bei Frauen um 243 Prozent höher ist als zum Beispiel im US–Staat Utah, bei Männern um 150 Prozent. Ascheregen und Angst nach der Detonation Pauline Esteves, vom Volk der Shoshone–Indianer nahe des US– Atombombentestgebietes, hat die unterirdischen Atomtests am eigenen Körper gespürt. Sie kennt das Zittern der Erde genauso wie sie den Atomtest und den Ascheregen der oberirdischen Tests aus den 50er Jahren miterlebt hat. Sie erinnert sich noch, als ihr Volk nach der furchtbaren Detonation des ersten sichtbaren Atomtestes aufgeregt zusammenlief und nach Erklärungen für die rätselhafte und bedrohliche Erscheinung suchte. Pauline Esteves war eine der Zeugen des Atomzeitalters, die sich fünf Tage in Amsterdam mit Wissenschaftlern und Aktivisten zu dem Internationalen Kongreß „Radiation and Health“ (Radioaktivität und Gesundheit) trafen, um über Strahlengefahren und Gesundheitsrisiken zu informieren. Rentierzüchter aus Lappland, Ärzte aus Polen, Angehörige von verstorbenen Arbeitern der Wiederaufarbeitungsanlage in Windscale, durch Strahlentherapie verseuchte Krankenschwestern, sie alle brachten persönliche Betroffenheit und wichtige Informationen nach Amsterdam. Paul Doj berichtete von der Tragödie der Samenfamilien, deren Rentiere nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch immer hoffnungslos verseucht und ungenießbar sind. Bis zu 96.000 Becquerel pro Kilo Fleisch ergaben die Messungen in diesem Frühjahr. Die norwegische Regierung hat in dieser Situation genau das getan, was den Ministerien aller Länder seit langem vor geworfen wird: Sie hat die Grenzwerte den Realitäten angepaßt und den letzten Anschein wissenschaftlicher Seriosität und Schutzfunktion dieser Grenzwerte endgültig beseitigt. Bis zu 6.000 Becquerel pro Kilogramm ist Rentierfleisch in Norwegen künftig noch verkehrsfähig. Die übrigen Lebensmittel dürfen dagegen nur bis 600 Becquerel belastet sein. Vorsätzliche Körperverletzung nannte dies ein Kongreßteilnehmer. Viele Samenfamilien wollen auswandern, sagte Paul Doj, ihre Existenz und Kultur stehen auf dem Spiel. Ganz andere Auswirkungen hat Tschernobyl in Polen. Dr. Culbinyi schockierte den Kongreß mit Zahlen über dramatische Geburtenrückgänge. Im ersten Jahr nach Tschernobyl seien in Polen nicht einmal die Hälfte der zu erwartenden 700.000 Neugeborenen auf die Welt gekommen. Massenhafte Abtreibungen? Viele Fehlgeburten? Verhütung aus Angst vor Strahlenschäden? Der polnische Mediziner blieb die Antwort schuldig. Er zeigte sich vor allem dann wortkarg, wenn der sowjetische „offizielle“ Strahlenmediziner Valeri Savchenko zuhörte. Wie von einem anderen Stern saß der sowjetische Wissenschaftler freundlich lächelnd inmitten der Anti–AKW–Bewegten. „Glasnost“ fand nicht statt. Schäden bei neugeborenen sowjetischen Kindern aus der betroffenen Region gibt es demnach nicht. Vom Tod des sowjetischen Filmemachers und Tschernobyl–Dokumentaristen, der an der Strahlenkrankheit gestorben war, hat Savchenko nie etwas gehört. Noch immer bestehende Sperrzonen um Tschernobyl für ausländische Journalisten sind ihm ebenfalls unbekannt: „Sie sind jederzeit herzlich willkommen“, versicherte er mit väterlichem Blick. Hohe Werte auch auf Korsika und Sardinien Ernest Sterngluss hatte neue Zahlen aus den USA parat. Nach seiner Auswertung der Mortalitätsrate von Neugeborenen und Erwachsenen gibt es in den USA einen deutlichen Tschernobyl–Effekt. Sterngluss sprach von „14.000 Toten zu viel“ in den vom Fall–out am stärksten betroffenen Gebieten. In manchen Regionen der USA sei dieser Fall–out weit stärker gewesen als etwa in Norddeutschland oder Dänemark. Sterngluss, aber auch die Wissenschaftlerinnen Rosalie Bertell und Alice Stewart wiesen nachdrücklich auf eine bisher weit unterschätzte gesundheitliche Konsequenz von Strahleneinwirkungen hin: die Schwächung des Immunsystems. Die Abwehrkräfte würden nachhaltig geschädigt, in der Folge träten Krankheiten auf, die zunächst überhaupt nicht mit Strahlenschäden in Verbindung gebracht würden. Ein bisher wenig bekanntes Belastungsgebiet des Tschernobyl– Falloutes rückte der korsische Arzt Dr. Denis ins Bewußtsein: Korsika und Sardinien. Denis sprach von einer Bodenbelastung von 300.000 Becquerel pro Quadratmeter für Korsika, was den bayerischen Werten nahekommt. Offizielle Untersuchungen und Messungen gebe es hier nicht. Er sei auf seine ganz persönlichen Beobachtungen angewiesen. Dazu gehöre zum Beispiel die häufige Klage der Bauern über Mißbildungen und Totgeburten der Rinder. Zwischen Juni und Januar sind ihm aus dem Umkreis 50 Fälle gemeldet worden, bei denen tragende Kühe ihr Kalb verloren haben. Hautverbrennungen, entlaubte Platanen, viele Neugeborene mit Schilddrüsenfehlfunktionen - Denis scheute sich nicht, den exakten Zahlenreihen und wissenschaftlichen Daten vieler anderer Kongreßteilnehmer seine einfachen „unwissenschaftlichen“ täglichen Beobachtungen hinzuzufügen. Der Amsterdamer Kongreß, der am Montag zu Ende ging, wird eine internationale Fortsetzung haben. Im September treffen sich in New York die Opfer des Atomzeitalters zu ihrem ersten weltweiten Kongreß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen